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Schwebende Box
By Editorial Department access_time 7 min read

Schluss mit den immergleichen Satteldächern und Klinkerfassaden: Die Villa Neo bei Hamburg zeigt Mut zur Gegenwart. 

Kompromisse sind eine knifflige Angelegenheit – vor allem in der Architektur. Allzu oft werden gute Ideen durch rigide Bauvorschriften oder Ängste der Beteiligten zerrieben. Umso erfreulicher ist es, wenn dennoch etwas Zeitgenössisches gelingt. Vor allem in Deutschland, wo wir sonst in puncto Baukultur immer neidisch nach Japan, Brasilien oder in den Mittelmeerraum blicken – und uns daheim mit monotonen Kisten nach Schema F begnügen. Dass dem bei weitem nicht so sein muss, zeigt eine Villa im Umland von Hamburg.

Alter Baumbestand schmückt den geräumigen Garten.

Auf einem 2.400 Quadratmeter großen Waldgrundstück haben Querkopf Architekten einen ungewöhnlichen Entwurf platziert, der „jeden enttäuschen wird, der eine Villa mit zwei Säulen vor der Türe erwartet“, erklärt das in Hamburg ansässige Büro, das 2011 von Fionn Mögel und Wasfy Taha gegründet wurde. Die Villa mag zwar in der Vorstadt stehen, doch sollte sie danach keineswegs aussehen. Es ging darum, urbanes Flair in die ländliche Umgebung zu tragen, und nicht den Stil der Provinz für Großstadtbewohner bekömmlich zu machen. Damit das gelingen konnte, mussten die baulichen Parameter etwas lockerer gefasst werden. 

Geschützte Zone: Die fensterlose Rückseite des Hauses ist zur Strasse ausgerichtet.

Ein lang gestrecktes Betonvolumen schwebt auf V-förmigen Metallträgern über den Boden hinweg. Das Erdgeschoss ist zu den beiden Längsseiten sowie zur Stirnseite verglast, sodass die Landschaft ebenerdig durch das Gebäude hindurchfließen kann.

In der Abendstimmung zeigt sich die klare Struktur des Baukörpers besonders eindrucksvoll.

Die Architekten intensivierten auf diese Weise nicht nur die Beziehung zwischen Bauwerk und Natur, sie wandelten zugleich auf den Spuren eines Großmeisters der Moderne: dem französisch-schweizerischen Architekten Le Corbusier, der schon seine berühmte Villa Savoye (1928–1931) auf Stelzen anhob, um die umliegenden Rasenflächen unter dem Wohnräumen hindurchzuführen. Auch mit der horizontalen Ausrichtung der Baukörper und der klaren Entscheidung für Flachdächer wurde dem Vordenker der Moderne Referenz erwiesen.

Alter Baumbestand schmückt den geräumigen Garten.

Der Grundriss der Villa Neo basiert auf zwei länglichen Volumina, die leicht verdreht übereinanderliegen. Die Fuge zwischen beiden Baukörpern definiert den Eingangsbereich des 403 Quadratmeter großen Gebäudes mit insgesamt 293 Quadratmeter Wohnfläche.

Die wehrhafte, beinahe bunkerartige Atmosphäre des Eingangsbereichs.

Die Rückseite des Hauses ist zur Straße ausgerichtet. Um die Geräusche vorbeifahrender Autos ebenso sicher fernzuhalten wie neugierige Passantenblicke, haben die Architekten zu einer radikalen Maßnahme gegriffen: Sie haben die gesamte Fassade mit fensterlosen Sichtbetonwänden ausgeführt, die eine wehrhafte, beinahe bunkerartige Atmosphäre versprüht und allein von der gläsernen Haustür durchbrochen wird.

Im Untergeschoss sind unter anderem eine Garage mit vier Stellplätzen untergebracht.

Anstelle eines konventionellen Lattenzauns haben die Architekten eine weitaus spannendere Lösung eingebracht: aus dem Boden emporragende Metallleisten mit verrosteter Oberfläche, die ohne horizontale Verbindungsstruktur ausgekommen. Die Blicke können aus frontaler Perspektive durch den „transparenten“ Zaun hindurchwandern. Wird der Blick zur Seite gerichtet, verdichten sich die Rostleisten optisch zu einer blickdichten Wand – um bei einer Veränderung des Standpunkts alsbald den Sichtkontakt wieder freizugeben. 

Anstelle eines konventionellen Zauns haben die Architekten das Grundstück mit aus dem Boden emporragenden Metallleisten eingefasst.

Verrostetes Metall wurde auch direkt vor dem Gebäude zur Einfassung von Beeten verwendet, die von Gräsern und flachen Gewächsen bevölkert werden. Das oxidierte Metall setzt einen spannungsvollen Kontrast zum grauen Sichtbeton, dessen Oberfläche alles andere als glatt erscheint. Deutlich treten die Spuren der einst horizontal montierten Verschalungsbretter hervor, die den Wänden plastische Tiefe geben und für subtile Schattenwürfe sorgen. In den Abendstunden wird die Betonstruktur mithilfe in den Boden eingelassener Strahler zusätzlich hervorgehoben.

Lichtdurchflutet: Der Essbereich der Villa Neo.

„Die Natur ist allgegenwärtig: Maßgeblich hat der Wald unsere Überlegungen zu einer für diesen Ort perfekten Fassade beeinflusst. Er hat uns vor die Aufgabe gestellt, eine Oberfläche zu entwickeln, die sich durch Moos, Laub und Witterung nicht beeindrucken lässt, sondern gerade dadurch würdevoll altert“, begründen Querkopf Architekten ihre Wahl für Sichtbeton. So verschlossen sich die Villa zur Straßenseite zeigt, desto transparenter erfolgt die Ausrichtung zum Garten. 

Das Obergeschoss schwebt auf V-förmigen Metallträgern über dem Boden.

Das 150 Quadratmeter große Erdgeschoss definiert den öffentlichen Teil des Hauses und geht mit bodentiefen Schiebefenstern nahtlos zu einer 170 Quadratmeter großen Terrasse mit Infinity- und Whirlpool über. Während die Glasscheiben des zweigeschossigen Baukörpers transparent gehalten sind, werden im eingeschossigen Seitenflügel verspiegelte Scheiben verwendet. Sie verdoppeln die Weite der 960 Quadratmeter großen Rasenfläche und lassen beinahe vergessen, dass dieser Ort nur wenige Fahrminuten von der Großstadt entfernt liegt. 

Von der Küche öffnet sich durch bodentiefe Fenster der Blick in den bewaldeten Garten.

Nach Betreten der Haustür fällt der Blick an einer Einbauküche von Eggersmann vorbei in Richtung Wohnbereich. Die Minotti-Sitzlandschaft nimmt sich mit ihren weißen Stoffbezügen bewusst zurück, um dem Ausblick in die Landschaft Vorrang zu lassen. Von skulpturaler Wirkung ist ein Designklassiker der Moderne: die 1962 von Achille und Pier Giacomo Castiglioni entworfene Arco-Bodenleuchte von Flos mit langem Schwenkarm und weißem Marmorsockel. Ein langgezogener, offener Kamin trennt die weißen Polstermöbel vom Essbereich, wo sich die Deckenhöhe verdoppelt und bis zum gläsernen Dach des Obergeschosses hinaufreicht. 

Designklassiker: Die Arco-Stehleuchte von Flos setzt einen markanten Akzent.

Stählerne Lamellen umklammern sowohl das Glasdach als auch die seitliche Fensterfront – und sorgen damit für einen industriellen Loftcharakter inmitten der Vorstadtidylle. Auch hier fällt der Beleuchtung eine wichtige Rolle zu. Über dem Esstisch hängen fünf Melt-Leuchten, die der Londoner Designer Tom Dixon zusammen mit dem Stockholmer Designstudio Front gestaltet hat und die mit ihren metallbeschichteten Polykarbonat-Schirmen an flüssiges Metall denken lassen.

Auch in den Schlafzimmern sorgen bodentiefe Fenster für einen wohldosierten Blick nach draussen.

Eine offene Treppe aus Massivholzstufen führt in das 99 Quadratmeter große Obergeschoss hinauf, das neben den Schlafzimmern und Badezimmern ebenso eine Bibliothek und ein Arbeitszimmer aufnimmt. Die Transparenz des Erdgeschosses wird hier zugunsten einer geschützten, intimeren Atmosphäre eingetauscht. Die Wände sind nicht aus Glas, sondern aus Sichtbeton gearbeitet. Bodentiefe Fenster sorgen dennoch für wohldosierte Blickkontakte ins Freie. Das Naturmotiv wird in den Bädern mit kieselsteinbestückten Duschwänden aufgegriffen. Vollflächige Spiegeleinbauten vergrößern zusätzlich die Raumwirkung. 

Das Naturmotiv wird in den Bädern mit kieselsteinbestückten Duschwänden aufgegriffen.

Im 154 Quadratmeter großen Untergeschoss sind zudem ein Gästezimmer, ein Hobbykeller für den Hausherren, ein Badezimmer mit Regendusche sowie eine Garage mit vier Stellplätzen untergebracht. „Die Villa Neo ist kein Baukastenhaus. Mit einer Mischung aus Bauhaus-Stil und Brutalismus strahlt sie nach außen Stärke und Geborgenheit aus, ohne nach innen an Eleganz, Großzügigkeit und Ruhe zu verlieren. Ihren Bewohnern gibt sie dadurch ein erhabenes Gefühl von Freiheit“, sind Querkopf Architekten überzeugt. Dass sie bauliche Prägnanz mit wohnlicher Leichtigkeit verbinden konnten, ist nicht zuletzt auch das Ergebnis von Vertrauen. „Wir sind dankbar, dass wir die Möglichkeit hatten, dieses Objekt entwickeln zu dürfen – ohne Kompromisse.“

Markanter Kontrast: Sichtbeton und das mattierte Kupfer der Armaturen.

Text//Norman Kitzmann Fotos//Frank Löschke

INFO

Projekt Villa Neo – Betonvilla

Grundstücksgröße 2.400 Quadratmeter

Nettogrundfläche 403 Quadratmeter

Baujahr 2019

Location Rosengarten, Deutschland

Architekten Querkopf Architekten Hamburg

Leitender Architekt Fionn Möge

www.querkopf-architekten.de

Fionn Mögel Hamburg Querkopf Architekten Villa Waldgrundstück Wasfy Taha