Was finden Sie an der Duftbranche so spannend?

Es ist der Mix aus Schönheit, Emotion und Ökonomie, der mich reizt. 

Sie haben noch recht jung eine Top-Führungsposition übernommen. Welche Botschaft haben Sie für Menschen, die ihnen nacheifern wollen?

Die erste Botschaft: traut euch! Die zweite Botschaft: lasst Hilfe zu. Und die dritte Botschaft: überlegt euch wirklich gut, ob ihr das wollt und auch einen Weg findet, mit den Konsequenzen umzugehen. Damit meine ich vor allem den mentalen Druck. Das bezieht sich auch auf die Herausforderung, das familiäre und berufliche Leben zum Ausgleich zu bringen.

Sie sprachen von der Bereitschaft, sich helfen zu lassen. Welche Art von Hilfe meinen Sie? Sich Tipps holen bei älteren Kollegen, externe Berater konsultieren?

Ich denke vor allem an Mentoring. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht.

Inwiefern?

Ich bin jemand, der andere Meinungen zulässt und höre mir vor einer Entscheidung erst mal an, was andere dazu sagen. Nur weil man zum Chef berufen wird, heißt es nicht, dass man auf einmal alles kann oder weiß. Da gibt es viele hier im Unternehmen, die ihre jeweilige Aufgabe bestens beherrschen und schon viel erlebt oder ausprobiert haben. Diese Expertise ist wertvoll. Und das meine ich mit Hilfe zulassen. Ich vergleiche meinen Job gern mit der Tätigkeit eines Jongleurs, wo man genau überlegen muss, wie viele Bälle brauche ich gerade oben? Wo muss ich einen rausnehmen, wo muss ich wieder einen reinnehmen?

Wer hat ihnen das vermittelt? Kommt das aus ihrem Elternhaus, oder haben Sie das mit der Zeit einfach selbst für sich entdeckt?

So genau weiß ich das gar nicht. Ich hatte immer ein enges Verhältnis zu meinen Großeltern. Vielleicht ist das tatsächlich eine Erkenntnis, die mir schon während der Kindheit mitgegeben worden ist. In vielen Lebenssituationen erhalten wir auch ungebetenen oder sinnlosen Rat. Das kann dazu führen, dass man am Ende nicht unbedingt immer auf den Mentor hört, den man an seiner Seite hat (lacht).

Derzeit treiben Sie die Transformation von Mäurer & Wirtz voran, ein Familienunternehmen mit Historie und Produkten wie etwa 4711 Echt Kölnisch Wasser, eine der ältesten Marken der Welt. Neben der Drogerie wollen Sie hinein in die Fach-Parfümerien. Wie haben Sie sich auf diese Aufgabe vorbereitet?

Ich bin mittlerweile zehn Jahre bei Mäurer & Wirtz und wurde vor vier Jahren zum Chief Executive Officer berufen. Das heißt, ich hatte bereits sechs Jahre Erfahrung im Unternehmen. Ich wusste genau, was wir können, und was nicht so gut.

Sie gelten als Freund solider Planungen…

In der Tat erstellte ich gleich zu Anfang einen 100-Tage-Plan: Was möchte ich in dieser Zeit erreicht haben, was möchte ich an Wissen aufbereitet haben. Dann haben wir in den ersten Monaten trotz Covid-Krise und der Flutkatastrophe am Stolberger Standort eine langfristige Strategie aufgesetzt, nämlich bis 2030. Zugleich ist uns trotz der schwierigen Lage gelungen, bei Umsatz und Marktanteilen zuzulegen. Die Corona-Pandemie hat uns auch vor Augen geführt, wie schnell und agil wir miteinander kommunizieren können.

Was ist der Kern der Transformation?

Transformation heißt nicht nur, neue Erlösquellen zu suchen oder in digitale Projekte zu investieren, sondern auch kultureller Wandel. Um alle mitnehmen zu können, muss es Klick machen in den Köpfen der Mitarbeitenden. Das hat viel mit Überzeugungsarbeit zu tun. Ist das der richtige Weg, passt das zu uns? Wir sind ein sehr tradiertes Unternehmen, und da muss in gewisser Art und Weise auch frischer Wind rein. Wenn dann die ersten Ideen auch noch signifikante Erfolge mit sich bringen, umso besser: dann kriege ich auch Zweifler noch überzeugt.

Rund 100.000 Menschen pro Jahr besuchen das Kölner Dufthaus von 4711 im neugotischen Stil aus verschiedensten Anlässen. Der Flagshipstore in der Glockengasse 4 bringt den Gästen über einen Shop, ein kleines Museum, historische Führungen, Duftseminare und Duftmenüs die Geschichte, Marke und Komposition von 4711 als „aqua mirabilis“ näher.

Sie stehen für eine konsequente Internationalisierung. Wie ist Ihre Zwischenbilanz?

Nach drei Jahren haben wir in den rein internationalen Märkten einen enormen Schub hingelegt mit einem Wachstum von rund vierzig Prozent. Mittlerweile macht das internationale Geschäft über dreißig Prozent vom Gesamtumsatz aus. Vor der Krise waren das etwa bei dreizehn, vierzehn Prozent.

China plus 138 Prozent Zuwachs. Lateinamerika plus 23,4 Prozent: Was haben Sie in diesen Ländern richtig gemacht?

China ist in der Tat ein großer Erfolg und bestätigt unsere Strategie. Wir sind insgesamt in 100 Ländern aktiv, haben uns aber auf zehn Märkte fokussiert mit ambitionierten Wachstumszielen. Dort operieren wir nach dem Motto: Die Flexibilität eines lokalen Familienunternehmens, kombiniert mit der Expertise eines Global Players.

Was heißt das?

Jahrzehntelange Erfahrung trifft auf zukunftsweisende Visionen, Marktstärke auf flexible Prozesse, parfümistische Höchststandards auf kreative Gestaltungsspielräume. Wir haben Dinge gemacht, die große internationale Unternehmen für gewöhnlich nicht machen, etwa durch flexible Losgrößen. Zudem war der Markteintritt in China gut vorbereitet. Das beinhaltete nicht nur klassische quantitative Marktforschung, sondern auch Gruppendiskussionen mit Konsumenten vor Ort. Und besonders wichtig: man braucht einen sehr guten Partner vor Ort, generell ein Erfolgsmodell für uns. Wir arbeiten international hauptsächlich mit starken Distributoren, und wann immer wir in einem Markt einen solchen Partner haben, merkt man auch, dass die Performance deutlich besser ist. Wir bieten unseren Partnern Freiheiten, die sie von anderen Unternehmen so niemals bekommen würden und konzipieren auch mal gemeinsam vor Ort etwas länderspezifisch Neues.

Zum Beispiel?

Wir haben für den chinesischen Markt einen speziellen Duft aufgelegt nach den Präferenzen der Menschen vor Ort mit einem Layout, wo in chinesischer Schrift steht: exklusiv für China.

Kaufen Chinesen Düfte wie 4711 Echt Kölnisch Wasser nicht genau aufgrund ihrer Heritage?

Absolut. Gleichzeitig emanzipiert sich der chinesische Markt auch im Duftbereich gerade enorm. Man schaut nicht mehr so stark nach Westen, wie noch vor einigen Jahren.  Mittlerweile gibt es tolle Produkte, die im Land entstanden sind, und die Vorherrschaft der großen amerikanischen oder europäischen Duft-Marken attackieren.

Sportlicher Typ: Manager Stephan Kemen spielte früher quasi professionell Fußball.

Moodbuster, Genderless, mehr Natürlichkeit: Was sind aktuell die großen Dufttrends und wie reagieren Sie darauf?

Ein wichtiger Punkt ist der Wunsch nach Individualität, was unterschiedlichste Interpretationen des Themas in der Nische befeuert. Ein Duft soll mir ein gutes Gefühl geben, und er soll Emotionen bei mir oder bei meinem Gegenüber hervorrufen. Zugleich suchen die Menschen eine Alternative zu den klassischen Düften von früher, möchten etwas eigenes, ganz Besonderes für sich entdecken. Unisex-Düfte spielen hierbei eine große Rolle.

Les Destinations oder die Acqua Colonia Collection Absolue: Was ist der strategische Hintergrund dieser Lancierungen?

Wir sind mit Mäurer & Wirtz ein Haus des Parfüms, wir bieten kein Makeup oder Pflegeserien an. Ein großer Strategiepunkt für ist es, uns im Rahmen der Diversifizierung breiter aufzustellen und alle Preispunkte und auch alle Bedürfnisse zu bedienen. Dazu gehört auch, unseren Marktanteil im Bereich der Luxusdüfte zu erhöhen. Die neue Linie 4711 Acqua Colonia Collection Absolue spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie ist unsere bisher extravaganteste und hochwertigste Kollektion. Zum allerersten Mal stehen luxuriöse Eaux de Parfum aus kostbarsten Ingredienzien im Mittelpunkt – neuartig interpretiert und in höchster Duftölkonzentration. Les Destinations sind elf hochwertige Unisex-Düfte, hinter deren geographischen Koordinaten sich jeweils eine wunderbare olfaktorische Welt eröffnet. Beide Linien sind exklusiv in Fachparfümieren und in unserem Online-Shop erhältlich.

Ein beträchtlicher Teil Ihrer Produkte war bislang eher im Drogeriemarkt zu finden. Jetzt betreten Sie das Segment großer internationaler Luxushersteller. Klopfen Ihnen da nicht die Konkurrenten auf die Finger?

Ähnliches machen die auch bei uns, das ist einfach der Wettbewerb.

Der Kosmetik- und Duftmarkt wird überwiegend von internationalen Multis bestimmt. Sie sind Chef eines mittelständischen Familienunternehmens. Machen Sie die Braut gerade hübsch für eine eventuelle Übernahme?

Ganz im Gegenteil, wir haben sehr ambitionierte Ziele. Wir wollen bis zum Jahr 2030 zur Top Zehn der Global Player zählen. Das heißt, wir streben da einen Umsatz von etwa 450 Millionen an, also eine knappe Verdopplung dessen, was wir jetzt machen. Und wir sind gerade dabei, uns mögliche Übernahmekandidaten anzuschauen. So sieht’s aus!

Können sie einmal den Weg zu einem neuen Duft beschreiben?

Im Grunde entsteht alles im Bereich des strategischen Marketings. Nehmen wir an, jemand hat eine Idee für eine neue Marke oder ein neues Konzept. Dann werden zunächst Moodboards kreiert, Farbwelten, Stoffe und so weiter, wie man das aus der Mode kennt. Ziel ist es, ein Gefühl zu bekommen für die jeweilige Welt, in der sich die das neue Produkt bewegen soll.  Und dann gehen wir mit diesem Briefing an die Dufthäuser und deren Parfümeure. Dort werden auf Basis des Moodboards konkrete Duftvorschläge kreiert, in der Regel etwa zwischen 30 und 40 Düfte. Jeder Vorschlag erhält einen Namen auf Basis unserer Assoziationen.

Stephan Kemen bei einem Shooting im Kölner Dufthaus von 4711.

Was assoziieren Sie?

Empfindungen, die der Duft auslöst: ich gehe durch einen Wald, rieche die Bäume, Vögel zwitschern, Fantasien also, um zu erklären, in welcher Welt sich der Parfümeur gerade mit seiner Idee befindet.

Also eine Art Storytelling für den Duft …

Ja, genau. Während des Prozesses gibt es verschiedene Iterationen, aus vielleicht vierzig Vorschlägen werden zwanzig, irgendwann hat man einen fertigen Duft. Manchmal passt alles von Beginn an zusammen, dann läuft das recht schnell und wir starten durch mit der Kampagne und der Kommunikation.

Wie groß ist die Trefferquote?

Jährlich werden etwa 800 Düfte eingeführt, nur 10 Prozent überleben das erste Jahr. Also viele Sternschnuppen, selten verfestigt sich ein neuer Duft als Klassiker.

Ist es leichter, mit synthetischen Stoffen einen neuen Duft zu komponieren denn mit natürlichen Zutaten?

Es ist ein Irrglaube, dass natürliche Düfte grundsätzlich besser sind. Inhaltstoffe aus der Natur haben nämlich zwei große Nachteile: Da ist einmal das Thema Allergene. Hier sind die Verordnungen mittlerweile so streng, dass viele Zutaten gar nicht mehr verwendet werden können. Und zweitens stellt sich die Frage der natürlichen Ressourcen.  Seltene Hölzer, besondere Pflanzen oder Blüten – all das kann nicht in beliebiger Menge geerntet werden. Für die Umwelt ist es oft besser, die gewünschten Aromen synthetisch nachzubauen. Und es zeigt sich, dass eine Duftkomposition in ihrer komplexen Vielfalt, Haltbarkeit und stabilen Qualität oft besser gelingt, wenn ich natürliche und synthetische Inhaltsstoffe miteinander kombiniere.

Lassen sich durch den Einsatz von synthetischen Stoffen höhere Margen erzielen?

Ja und nein. Nehmen wir an, wir wollen einen Duft produzieren mit dem Öl der berühmten Rose aus Grasse. Dann findet ein natürlicher Inhaltsstoff Verwendung, der verdammt teuer ist. Wenn ich das synthetisch nachstelle, wird es günstiger. Aber genauso gibt es auch umgekehrte Beispiele.

Ihr Unternehmen ist international aufgestellt. Sie sind selbst viel in den neuen Märkten unterwegs. Welches Land beeindruckt Sie besonders?

Es gibt drei Märkte, die mich derzeit besonders faszinieren. Das sind Indien, China und der Mittlere Osten. Deren Kultur und auch die Landesküchen empfinde ich als sehr inspirierend. Wenn wir mit lokalen Geschäftspartnern essen gehen, möchte ich unbedingt immer die typischen Spezialitäten probieren. Aber auch die großen Fashion-Metropolen wie London, Paris oder Mailand reizen mich. Was gibt es Neues, was ist gerade angesagt? Das zu erspüren, ist mir wichtig.

Gelegentlich rätselt man über den Erfolg von Firmen, die im Familienbesitz sind oder wo die Gründer einen großen Anteil halten am Kapital. Hat das vor allem mit Leadership und einem besonderen Verantwortungsbewusstsein zu tun?

Auf jeden Fall. Hinzu kommen Tradition und ein klares Wertesystem. Dass Mäurer & Wirtz ein Familienunternehmen ist, empfinde ich als einen großen Vorteil. Konstanz und langfristiges Denken sind hier ein tragendes Element. Wir sind nicht ausgelegt auf Quartale. Ich muss zwar genau wie jeder andere Top-Manager am Ende des Jahres das bringen, was ich geplant habe, aber ich muss das Ergebnis nicht jedes Quartal aufs Neue übertreffen. In unserem Hause geht es um die langfristige Strategie. Wichtig dabei ist eine gute, klare Kommunikation. Man muss bereit sein, sich mit den Gedanken und Visionen der Familie auseinanderzusetzen und diese entsprechend unternehmerisch einzubeziehen.

Was prägt ihre Stimmungslage derzeit mehr: Skepsis oder Zuversicht?

Ich bin jemand, der grundsätzlich zuversichtlich ist, aber ich habe die Risiken und die Gefahren fest im Blick. Ich hasse es, keinen Plan B zu haben. Das gilt für mich privat als auch für die Art und Weise, wie ich das Unternehmen führe. Insofern ist es immer wichtig zu wissen, wer sind die Gegner, wo liegen Schwächen, welche Gefahren gibt es.

Der Tresen im Kölner Dufthaus: Hier sind die verschiedenen Marken und Parfums erhältlich.

Die Welt der Düfte ist Ihr berufliches Zuhause: Gibt es in anderen Bereichen etwas, was Sie gerne noch lernen würden?

Ich würde gerne meine Französischkenntnisse aufbessern. Leider komme ich im Alltag nicht ausreichend dazu. Trotz der App, die ich zwischendurch zum Üben nutze.

Was ist für sie besonders wertvoll?

Zeit. Das ist für mich das Wertvollste. Ich bin Vater von zwei Kindern, fünf Jahre und ein Jahr. Die wenige private Zeit, die ich habe, versuche ich nach Möglichkeit mit der Familie zu verbringen. Selbst mein Freundeskreis wird da gerade leider etwas vernachlässigt.

Also keine aufwändigen Hobbies?

Mein Hobby ist die Familie. Und ich achte auf meine Gesundheit.

Welchen Sport machen Sie?

Ich habe früher bei der Junioren-Bundesliga quasi professionell Fußball gespielt und täglich trainiert. Aktuell halte ich mich mit Joggen und Kraftraining fit. Zusätzlich habe ich das Boxen für mich entdeckt.

Worauf würden Sie ungern verzichten?

Abgesehen von der Familie: Auf Kaffee, Sonne, Mode, Sport und gute Gespräche.

Wie halten Sie es bei der privaten Geldanlage?

Das ist bei mir konservativ: Immobilien, Aktien, Wertgegenstände.

Keine Bitcoins?

ich investiere nur in Dinge, die ich komplett verstehe.

Was ist der teuerste Gegenstand, den sie besitzen?

Eine Pepsi von Rolex aus dem Jahr 1982.

Lassen Sie mich raten: Ihr Geburtsjahr?

So ist es.

Interview: Thomas Garms

4711 Echt Kölnisch Wasser Mäurer & Wirtz Mentoring Stephan Kemen