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Fast ein Raketenstart
By Editorial Department access_time 6 min read

Der Speed, schnellste Version des Bentley Continental GT,  zeigt bei der Ausfahrt auf Sizilien scharfe Zähne

Seit 1991 verlassen, vergessen und von Mutter Natur erobert. Verfallen und voller Leben. Einst ein Zentrum der Wehrhaftigkeit, jetzt ein Hidden Place. Und mittendrin die Wucht und Lebenskraft eines britischen Autos, das, einem Spielzeug gleich, den Ruinen von Comiso auf den Leib rückt. 

Abenteuerfahrt durch eine vergessene Welt: Der Raketenstützpunkt Comiso auf Sizilien.

Es fängt an mit einem Gittertor und mindestens zwei finster drein blickenden Wächtern. Dahinter schimmern Verfall und die Lebenskraft der Natur. Der GT Speed aus der Bentley-Familie will rein, will erkunden, schnuppern, brüllen, den brüchigen Asphalt mit seinen über zwei Tonnen Gewicht testen und seine Kräfte zeigen, sich zeigen. Als wäre er ein Botschafter der Menschheit. „Sehet, höret, erlebt meine Aura.“

Gas geben und durch die Ruinen driften im stärksten Bentley.

Wir fingen langsam an. Mit Bedacht und dem Sommer zugeneigt. Im Cabriolet oder Convertible, aus der Reihe GT Speed. Technik und Fahrleistungen beider Varianten des Bentley Continental GT Speed sind identisch. Zwillinge, nur kann einer von beiden den Hut ziehen und dem Wind, den Sonnenstrahlen und den Düften der Natur freien Lauf lassen. Hitzige Speed-Attacken sind möglich, aber unerwünscht. Das hohe C, das allen Cabriolets eingebaut wurde, klingt ruhiger, gelassener und mehr dem Genuss des Entschleunigens zugewandt. Deshalb die Fahrt zu unserem Ziel mit dem Blick auf die Flora und Fauna der großen Insel, deren Ortschaften so eindrucksvoll mürbe und gleichzeitig voller Leben sind. Dazu die Landschaft rund um das Weltkulturerbe, den Ätna. 

Die Kulisse erinnert an eine Kleinstadt im Mittleren Westen der USA.

Und dann Endstation. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Tor aus Stahlgitter, Wachposten, hohe Mauern und das Cabrio schleicht sich fast schüchtern hinter die Mauern. Eine rostige Wellblechhalle und dort steht der nächste GT Speed. Diesmal mit Stahldach und in Julep lackiert. Ein Kontrastmittel mit den Kräften eines Supersportlers auf dem Weg durch eine verlassene Welt. 

Wunderbare, feine Materialien prägen das Cockpit: Edelholz, Rautensteppung, Alcantara.

Comiso, einst eine wichtige Militär-Basis der US-Airforce Ende der 90er Jahre entmilitarisiert, seit rund 20 Jahren dem Trieb der Natur überlassen. Es grünt überall und die kleine Stadt, in der einst Kinder zur Schule und danach ins Freibad gingen, Mütter und Väter Uniform trugen und das Leben dem einer Kleinstadt im mittleren Westen der USA nicht unähnlich war.

Verhandelbar: Der klassische Look mit Rundarmaturen dreht sich auf Knopfdruck weg und das Navi kommt nach vorne.

Und nun sitzen wir im stärksten Bentley. Man hat uns eine Route durch die Straßen von Comiso abgesteckt. Eine Runde mit Navigator Steve. Dann der Wechsel und die Reise im schnellsten aller Bentley geht los. Wir wissen um die Technik, die dem GT Speed seine Traktion verleiht. Die Differenziale, die Reifen, der Allradantrieb, plus dieses Heer an elektronischen Fangleinen, die den Wagen immer dann zurück in die Spur bringen, wenn es der Fahrer zu arg trieb. Und wir trieben es arg.

Für Vergessliche direkt in den Hinterkopf gestickt: Speed.

Die erste Runde am Steuer und gleich zu Anfang eine Schrecksekunde. Ein Kaninchen testete unser Reaktionsvermögen und die Bremsen plus Reifen. Der Wagen war sehr gut, das Kaninchen überrascht und die Besatzung überzeugt. 2,3 Tonnen Masse lassen sich sehr, sehr schnell in den Ruhestand versetzen. Das Spiel geht weiter. Vollgas, fast ein Raketenstart in Richtung Supermarkt, 900 Newtonmeter zerren an der Kurbelwelle, im Sport-Modus liegt die Konzentration des Antriebs  auf den Hinterrädern, der Brite will sein edles Heck gerne nach links oder rechts ausbrechen lassen, die Technik greift ein und verhindert den Kontrollverlust des Fahrers.

Seit mehr als 20 Jahren in diversen Bentley aktiv: der 6-Liter W12.

Wir rennen durch die Straßen einer verlassenen Stadt, vorbei an der Kirche, den Einfamilienhäusern, den Wohnblocks der Mannschaftsdienstgrade und rollen, fast andächtig, durch eine Halle, die einst als Lager für Waffensysteme der nachhaltigsten Art diente. Der Bentley aus Crewe in der Rolle des Archäologen. Voller Tatendrang. Hochmodern, blitzschnell und in seinem schimmernden Anzug ein fast surrealer Anblick. Wir sitzen auf edelstem Leder, jeder Griff, Knopf oder Schalter eine Hommage an klassisches Handwerk und um uns herum Technik und Natur in schön-schauriger Umarmung. 

Handgeschmiedete Felgen sind Ehrensache bei diesem luxuriösen Sportler.

Zwei Runden später, die Bremsen duften so wunderbar nach Speed, der Motor ruht sich aus und nach einer Pause geht die Reise zurück zum Hotel. Im Coupé und mit der Gewissheit, dass dieser Wagen nur ausgesprochen selten seine Talente ausleben kann und darf. In Comiso durfte er. Kurz nur aber überzeugend. Und für uns war diese eigenartige Variante einer Stadtrundfahrt ein Erlebnis, auch weil wir die Grenzen unseres Könnens erleben konnten. 

Einzigartige, kraftvoll wirkende Silhouette.

Zum Abschluss des Tages dann wieder das Cabriolet. Der Vergleich als Fingerübung, weil der Mensch nicht jeden Tag verlassene Militär-Basen im Bentley besucht. 659 Pferdestärken, der Innenraum ein Club der feinsten Art und unter die Historie, die Tradition des Continental fährt immer mit. Anfang der 50er Jahre ging die Reise mit dem Continental R los, 2003 dann der erste Bentley unter der Führung von Volkswagen. Und gleich ein Volltreffer. Der GT Speed tauchte das erste Mal 2007 auf und spurtete mit fast übertrieben viel Kraft aus den Hallen in Crewe. Und wir lernen, dass die DNA von Bentley auch im Jahr 2021 höchst hell strahlt, wirkt und den Begriff Gentleman-Express mit soviel Leben füllt, wie man es 1924 auf den Straßen um Le Mans erleben konnte. Schnell, luxuriös und immer diesen deutlichen Tick britischer. 

TEXT//RALF BERNERT

INFO

Motor W12 BiTurbo

Leistung 485 kW / 659 PS bei 5.000 – 6.000 U/min

Drehmoment 900 Nm bei 1.500 – 5.000 U/min

Antrieb Allrad

Getriebe 8-Gang Doppelkupplung

Länge 4.850 mm

Breite 1.966 mm

Höhe 1.405 mm

Radstand 2.851 mm

Leergewicht 2.165 bis 2.273 kg

Beschleunigung 0-100 km/h: 3.6 s

Top Speed 335 km/h

Verbrauch/CO2 kombiniert NEFZ: 13.5 l/100 km; CO2 NEFZ: 308 g/km

Preis in Deutschland Coupé ab €225.100,00 (ohne MsWt)

Preis in Deutschland Convertible ab €247.600,00 (ohne MsWt)