Mal wird die schmale Nobelgasse Hohe Bleichen in der Hamburger City schlagartig von schwarzen Limousinen versperrt, aus denen dann Sicherheitspersonal sowie ein recht bekannter russischer Milliardär steigen. Mal schleicht da ein Typ in die Hausnummer 18, der eigentlich kein anderer sein kann als einer der letzten großen Rock-Dinos. Wer sich für Fußball interessiert, erkennt den ein oder anderen Star diverser Nationalmannschaften, und Polit-Junkies dürften sofort ehemalige Minister und Regierungschefs identifizieren können.
Sie alle kommen nicht etwa in die Hansestadt, um sich zu vergnügen oder einen Deal klarzumachen. Der gemeinsame Grund ist die Sorge ums körperliche Wohl. Und weil die Praxis von Harry Finneisen nun mal da liegt, wo sie liegt, dezent und unscheinbar zwischen Boutiquen und Cafés, bemüht sich auch ein Oligarch hierher.
Man könnte nun meinen, Harry Finneisen sei bei dieser Art von Klientel einer der Promi-Ärzte, die gern in Talkshows sitzen und sich am eigenen Ego berauschen. Aber das tut er nicht. Darauf pfeift er, wie er sagt. Denn zum einen ist Finneisen überaus bodenständig und bescheiden. Zum anderen ist er überhaupt kein Arzt, sondern Biochemiker und Toxikologe, der eher sein Labor liebt als die Bühne. Auf seinem Gebiet jedoch hat er es zu besonderem Ruhm gebracht. So gilt der gebürtige Hamburger vielen als Papst der Vitalstoffdiagnostik. „Bodychecker“ nennen ihn die einen, „Zellenversteher“ die anderen. Wer wissen will, was in seinem Körper gerade schief läuft, bei welchem Organ es hakt und wie er seinen ständig auf Reserve laufenden Akku wieder aufladen kann, der konsultiert Harry Finneisen.
Finneisen studierte Biochemie in Freiburg, forschte beim Pharmakonzern Böhringer, war viele Jahre Dozent an der Universität Oldenburg. Anfang der Neunzigerjahre entscheidet er sich für einen radikalen Schnitt und erfüllt sich einen Traum. Finneisen, der in den Semesterferien in seiner norddeutschen Heimat das Kapitänspatent gemacht hatte, baut sich einen Fischkutter zum Topp-Gaffelschoner um und sticht in See. Viereinhalb Jahre fährt der verhinderte Meeresbiologe mit seiner Frau um die Erde – und wird dafür auch noch bezahlt, indem er Redaktionsteams der ARD für Dreharbeiten in die schönsten Winkel des Planeten schippert. 1995 geht Finneisen wieder an Land, verkauft das Boot und investiert den Erlös in ein Labor, mit dem er anfangs den Ursachen von Magen- und Darmerkrankungen auf die Spur kommen will. Es ist das Herzstück seiner neuen Firma, die er „Hamburger Institut für Regenerationsmedizin“ nennt. Finneisen baut seine Expertise aus, diagnostiziert mittels Blutanalysen die Defizite und Unverträglichkeiten seiner Patienten, wird mit seiner Beratung und den Heilerfolgen (sein Mutmachslogan lautet: Es wird alles wieder gut!) über die Hansestadt hinaus bekannt. Heute vertraut sich ihm die Prominenz genauso an wie der ausgelaugte Topmanager und der auf Höchstleistung getrimmte Athlet, zudem kommen viele Patienten, die meinen, dass über viele der von den Krankenkassen getragenen Verfahren nur unzureichende Aussagen über den Gesundheitszustand zu treffen sind.
Bei seinen Analysen greift Harry Finneisen in seiner Praxis inzwischen auch auf elektronische Hilfsmittel zurück, digital arbeitende Apparate, die die Größe eines Laptops haben, aber den Wert eines nagelneuen Oberklassewagens. Vitalscan heißt so eine Wunderkiste, Cardioscan eine andere. Laut ihrer Entwickler ermöglichen sie in geradezu rasender Geschwindigkeit präzise Einblicke in den menschlichen Organismus, wie es vor wenigen Jahren noch nicht möglich gewesen ist.
Beim Vitalscan sitzt der (im übrigen völlig bekleidete) Patient mit Finneisen vor einem Flachbildschirm. In der geschlossenen Hand hält er dabei einen metallenen Zylinder von der Größe eines dickeren Eddings, der über ein Kabel mit dem Computer verbunden ist. Was dann passiert, ruft bei Finneisens Besuchern regelmäßig verblüffte Reaktionen hervor: ein Knopfdruck, und der komplette Körper wird innerhalb von nur 60 Sekunden gescannt. Auf dem Bildschirm erscheinen knapp 40 analysierte Komponenten – von Lunge und Leber über die Knochen, die Prostata bis hin zur Haut und zum Immunsystem. „Jede Zelle in unserem Körper ist einem Organ zugeordnet“, erklärt der Biochemiker den Prozess. „Es gibt Knochenzellen, Schleimhautzellen, Herzzellen, diese Zellen werden von der Software über ihre individuelle Frequenz erkannt, über die elektromagnetischen Wellen, die jede von ihnen aussendet.“ Gleichzeitig ist in der Software das hinterlegt, was heute „Big Data“ genannt wird: Unmengen an Patientendaten. Die in der Hamburger Praxis gemessenen Werte können so blitzschnell mit den hochgerechneten Werten von gesunden Menschen abgeglichen werden. Über die auf dem Monitor angezeigte Abweichung erkennt Harry Finneisen, in welchen Bereichen des Körpers nach der Ursache eines Symptoms (z. B. eines Erschöpfungszustands) zu suchen ist. Zusammen mit seiner Blutuntersuchung kommt er so zu einer Anamnese, die entweder zu unmittelbaren Handlungsanweisungen führt („Bitte gehen Sie zum Facharzt!“, „Meiden Sie geschwefelte Lebensmittel!“) oder zu Medikationen in Form individuell zusammengestellter Vitalstoffe wie Vitamine und Aminosäuren. Die werden von speziellen Apotheken in Granulatform abgemischt, per Post zugesandt und stehen danach bei Finneisens prominenten und weniger prominenten Patienten in Küche und Büro.
Ähnlich faszinierend wie der Vitalscan ist für viele Hilfesuchende der Cardioscan, an den man wie an ein EKG angeschlossen ist. „Aber es wird nicht nur das Herzkreislaufsystem erfasst, sondern die gesamte Verstoffwechslung. Alles wird angezeigt“, sagt Finneisen, der die deutsche Technik vor allem bei der Betreuung von Hochleistungssportlern wie der isländischen Fußballnationalmannschaft einsetzt. „Wenn ein Spieler zu einseitig trainiert wurde, kann der Muskel das Skelett nicht richtig halten. Die Folge sind schnellere Verletzungen und langsamere Regeneration. Die falsch trainierten Muskeln mit geringer Durchblutung kann ich sofort am Bildschirm identifizieren. Ich kenne keinen Spieler aus der Bundesliga, der richtig trainiert ist. Ziel ist es, die Trainer dazu zu bringen, ein gerades, ausgewogenes Training zu konzipieren.“
Wenn Finneisen von seiner Arbeit erzählt, wird jeder Satz von Begeisterung getragen, eine Begeisterung, die überrascht, denn die neue digitale Medizintechnik würde man bei einem Vertreter der alten Schule (Jahrgang 1952, Studium in den Siebzigern) nicht unbedingt erwarten. Und dann sagt der Hamburger etwas ganz Entscheidendes: „Es ist schon gewaltig, was alles in den Geräten steckt. Wir sind gerade an einem Punkt wie vor 120 Jahren Konrad Röntgen. Mit seiner Erfindung konnte er zum ersten Mal in unseren Körper hineinblicken. Mit der Digitalisierung tun wir das jetzt wieder, nur viel tiefer.“
Der Vitalscan, der von einem Frankfurter Geschäftsführer-Duo auf Grundlage russischer Weltraumtechnik – mit ihr kann im All der Gesundheitszustand der Kosmonauten blutlos ermittelt werden – kontinuierlich weiterentwickelt und vor zwei Jahren zur Marktreife gebracht wurde, ist nur ein Beispiel für den Aufbruch in der Digitalmedizin. Der gewaltige Goldsuchertrek tausender Glücksritter wird angeführt von Google, einem Unternehmen, das längst mehr ist als der Suchmaschinenbetreiber. Zusammen mit Novartis entwickelt Google gerade eine intelligente Kontaktlinse, die ständig den Blutzuckerspiegel von Diabetikern überwacht. Ein Herkulesprojekt ist die Entwicklung eines Detektors, der am Handgelenk getragen wird und über eingenommene magnetische Nanopartikel Krebszellen aufspüren sowie rechtzeitig vor Herzinfarkten warnen soll. Durch eine Kooperation mit der Genetikfirma AncestryDNA sollen über die Analyse von Millionen von Familiendaten Rückschlüsse auf die Lebensdauer und damit auf lebensverlängernde Therapien gezogen werden können. Und mit der Tochterfirma Calico Labs hat es sich Google zur ungeheuerlich klingenden Aufgabe gemacht, einen der größten Menschheitsträume zu erfüllen – den Alterungsprozess aufzuhalten und Zivilisationskrankheiten wie Krebs und Alzheimer schlicht abzuschaffen. Mit dem Milliardeninvestment, das vor drei Jahren verkündet wurde, ging ein Ruck durch die gesamte Forschung. Google-Chef Larry Page damals: „Ausnahmslos jede Familie hat mit Krankheiten und dem Älterwerden zu kämpfen. Ich glaube, dass wir auf lange Sicht mit Moonshot-Thinking im Bereich von Gesundheitsfürsorge und Biotechnologie Millionen von Leben verbessern können.“ Moonshot-Thinking nennen die Amerikaner die Umsetzung großer Visionen, die sich an nichts weniger orientieren als der Mondmission von 1969.
Die Krankenkassen bekommen diese Innovationsoffensive längst zu spüren. „Praktisch täglich erreichen uns Anfragen und Angebote“, sagt Hermann Bärenfänger, E-Health-Fachmann bei der Techniker Krankenkasse. „Zugleich gehen wir auch aktiv auf Start-up-Unternehmen zu. Im Fokus steht dabei die Frage: Hat das Angebot einen Nutzen? Bietet es einen Mehrwert? Unsere Experten aus dem Bereich Versorgungsinnovation beschäftigen sich Tag für Tag mit der Frage. Viele sinnvolle Angebote haben so schon den Weg in den Versorgungsalltag gefunden.“
Viele aber eben noch nicht. Wie der Vitalscan, für dessen Ganzkörpercheck der Patient bislang 420 Euro überweisen muss. Die entscheidende Frage ist: Wie schnell kann das deutsche Gesundheitssystem durch die IT-Industrie modernisiert werden? „Mit zehn Jahren ist ein Auto alt“, sagt Harry Finneisen. „In der Medizin sind zehn Jahre aber jung. Das erste Mal erfuhr ich vor sieben Jahren von dem Vitalscan. Erst jetzt ist er da. Jedes neue Verfahren, das auf den Markt kommt, wird eine Zeit zu kämpfen haben. Auch Wilhelm Conrad Röntgen wurde anfänglich erst einmal als Scharlatan beschimpft. Hauptsächlich steckt die jahrelange Lobbyarbeit der Pharmaindustrie dahinter. Es werden Dinge für schlecht erklärt, die eigentlich gar nicht schlecht sind. Aber die Computerisierung werden auch die Pharmavertreter nicht mehr aufhalten können. Gut möglich, dass der Gigant Google manche Blockade zum Einsturz bringen wird, gegen die kleinere Entwickler zuvor keine Chance gehabt haben. Dann wird endlich auch der Normalbürger von den Innovationen profitieren.“ Das Problem bislang sei, so Finneisen, dass die Krankenkassen in den vergangenen Jahren kaum Neuerungen in ihre Leistungskataloge aufgenommen hätten.
Was den Vitalscan angeht, begründet das die Techniker Krankenkasse damit, dass die Technik „zu ungenau“ sei. Scan-Systeme, so die Experten, seien immer dann sinnvoll, wenn die Messungen exakt sind und der Absicherung von Unsicherheiten dienen. „Ungenau ist unser Vitalscan höchstens dann, wenn man ungenaue Patientendaten wie Alter, Größe und Gewicht eingibt“, kontert Dervis Culfa, Geschäftsführer der Vitalscan medX GmbH. „Ansonsten trifft das Gegenteil zu. Wir erheben mit dem Vitalscan insgesamt 270 Parameter, die sich mit einer klassischen Blutuntersuchung im Labor abgleichen lassen. Und wir haben sogar noch den Vorteil, dass wir sofort erkennen können, welches Organ es gerade ist, das schwächelt und Hilfe benötigt. Eine bessere Prävention gibt es nicht.“ Entwickler Culfa ist Gegenwind gewohnt, nicht nur von den Kassen, auch aus der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie. „Die Verfahren des Nicht-Invasiven sind für viele noch Hokuspokus, weil die meisten aus der Schulmedizin kommen und etwas anderes gelernt haben, nämlich, sich nur auf Blutparameter zu verlassen“, sagt er. „Aber der Zulauf gibt unserer Firma recht.“
Inzwischen haben rund 50 Apotheken in Deutschland den Vitalscan im Laden stehen. Unter ihnen Christina Betzler, die im niedersächsischen Buxtehude die Engel-Apotheke führt und gegen 19,90 Euro in einem Basis-Check ermittelt, ob es ihren Kunden an Aminosäuren, Vitaminen und Spurenelementen fehlt und ob Schwermetalle im Körper stecken. 150 Messungen hat sie so im ersten Jahr durchgeführt. „Viele sind erst einmal skeptisch, weil sie sich nicht vorstellen können, wie das funktionieren soll“, sagt Betzler. „Aber wenn sie sehen, dass sich die ermittelten Werte nach Einnahme der Vitalstoffe verbessern oder die Messungen mit ihren mitgebrachten Blutwerten übereinstimmen, sind sie plötzlich sehr interessiert. Jeder Hausarzt müsste so ein Gerät in der Praxis stehen haben, um einen ersten Check zu machen. Denn oft wird ins Leere therapiert.“
Zwar wird das entstandene Spannungsfeld zwischen Pharma und IT von den Kassen als positiv bewertet, weil durch digitale Diagnostik tatsächlich manch teure Fehlbehandlung abgewendet werden kann. Zwar werden viele nette Gesundheits-Apps fürs Smartphone auch von den Kassen als sinnvoll angesehen. Das Geschäft mit vielen der teureren IT-Erfindungen wird aber vorerst mit den besserverdienenden Selbstzahlern gemacht.
Bei aller Hoffnung, die Kranke, Gestresste und Ausgepowerte in die digitale Medizinrevolution setzen: Ängste davor sind überall zu spüren. Im vergangenen Jahr redete Günther Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates zum Thema „Die Vermessung des Menschen – Big Data und Gesundheit“. Was hängen blieb, waren neben dem Jubel über die technischen Triumphe die zahlreichen Warnungen und offenen Fragen. „Ein Markt entsteht, und der bedarf einer Ordnung“, sagte Oettinger. „Was bezahlen die Krankenkassen und was nicht? Kommt es zu einer Spaltung der Gesellschaft? Wird einer, der viel bezahlt, sich digital alles leisten können? Oder wird das System sozialverträglich entwickelt, sodass die Anwendungen jedem, der behandlungsbedürftig ist, auch von den Krankenkassen bezahlt werden können?“ Auch hinsichtlich des Umgangs mit Big Data hatte Oettinger vor allen Dingen Mahnungen dabei. „Wenn eine Cloud nicht sicher ist, wird dadurch ein funktionierendes Gesundheitssystem in Gefahr gebracht oder lahm gelegt werden können. Es muss ein europäischer Verhaltenskodex entwickelt werden. Wir stehen erst am Anfang der Entwicklung. Wenn wir uns da nicht einmischen, bestimmen die anderen die Regeln. Ich glaube, dass auch hier unser europäisches, christliches, humanes Menschenbild einen Beitrag leisten soll und nicht alles nur China und den USA überlassen werden darf.“
Auch Harry Finneisen weiß um die Schattenseiten. Er führt noch eine ganz andere Gefahr ins Feld, nämlich die Vorstellung, eines Tages von Androiden behandelt zu werden. „In den Arm nehmen können, in die Augen schauen können, das ist für mich enorm wichtig“, sagt der Mediziner. „Fiele das weg, würde es verdammt kalt werden. Kälte können wir Menschen nicht gebrauchen, wir brauchen Wärme. Und wenn wir nur noch mit Maschinen zu tun haben, wird es auch immer mehr Ärzte geben, die selbst gar nicht mehr diagnostizieren können.“ Dass jedoch perfekt programmierte Algorithmen allein nicht in der Lage sind, das Vertrauen der Patienten zu gewinnen, dafür kann das Phänomen Finneisen stehen. Denn natürlich könnten sich seine Milliardäre einen voll ausgestatteten Vitalscan für über 100000 Euro auf die Megajacht stellen – Peanuts. Tun sie aber nicht. Sie konsultieren Harry Finneisen, der auf ein ganzes Forscherleben zurückblicken kann. Nur das hat ihn erst zum Zellenversteher gemacht.
Text: Martin Häusler / Fotos: Sarien Visser
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INFO
Hamburger Institut für Regenerationsmedizin
Telefon +49 (0)40 -35 71 44 50
Calico Labs Cardioscan Hamburger Institut für Regenerationsmedizin Harry Finneisen Toxikologe Vitalscan
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