Enzo Ferrari soll viersitzige Autos durchaus gemocht haben – sein Favorit war ein 365 GT 2+2 in Hellblau mit Automatikgetriebe. Der Patriarch hatte tatsächlich kein Problem mit der Idee eines „praktischen“ Ferrari. Hätte er also sein neuestes Produkt, den hochbeinigen, viersitzigen und viertürigen Purosangue, abgenickt?

Ferrari mit ungewohnten vier Türen. Die Türen für den Fond sind hinten angeschlagen.

Spät kommt es, aber es kommt, das erste Sport Utility Vehicle aus Maranello. Die legendäre Marke selbst spricht allerdings lieber von einem „Ferrari Sports Car“ – das bisschen Hochlegung (185 Millimeter Bodenfreiheit), vier Türen und vier vollwertige Sitze würden ja schließlich von einem 725 PS starken V12-Saugmotor samt sportwagenoptimalen Transaxle-Prinzip (Motor vorne, Getriebe hinten, was eine Gewichtsverteilung von 49 Prozent vorne und 51 hinten bedeutet) angetrieben – eine einzigartige Kombination.

Die weiteren Eckdaten des „Vollblutes“ klingen allerdings ebenso beeindruckend: stärkster Ferrari-V12 aller Zeiten, 716 Newtonmeter maximales Drehmoment, Allradantrieb, Allradlenkung, ein Top-Tempo von 310 km/h und eine neue aktive Federung und. Sie heißt „Multimatic’s True Active Spool Valve“ (TASV) und verbindet aufwändig elektrische Stellmotoren an den Federbeinen mit den Dämpfern. Damit soll der Bodenkontakt der Reifen in jedem Fahrzustand und auf jedem Untergrund optimal sein, zumal das System mit sämtlichen anderen elektronischen Fahrwerksbauteilen des Autos wie zum Beispiel ESP zusammenarbeitet.

Ein Bild von einem Auto: Schön ist er, der neue Ferrari SUV.

Auch im Design will sich der Purosangue von der SUV-Masse absetzen. Die Coupèform haben auch andere, die optische Trennung vom dunklen technischen Unterboden und dem muskulösen Oberkörper durch eine scheinbar schwebende Karosserie eher nicht. Chefdesigner Flavio Manzoni konnte diese Umsetzung sogar patentieren lassen. Optisches Highlight sind zweifellos die hinten angeschlagenen „Selbstmörder“-Türen, von Ferrari „Welcome Doors“ genannt. Sie funktionieren elektrisch und lassen einen großzügigen Einstieg auf die Fondplätze zu.

Innen: Ferrari pur. Etwas Carbon, viel Klavierlack, ansonsten polyestert es munter – die Dachverkleidung besteht aus recyceltem Kunststoff, die Teppiche sind aus recycelten Polyamid-Fischernetzen. Und selbst das serienmäßige Alcantara beinhaltet zu 68 Prozent diesen recycelten Kunststoff, der Rest ist Polyurethan. Leder kostet Aufpreis. Der Copilot kann sich dank großem, serienmäßigen Bildschirm vor sich über die gewählten Fahrzeugfunktionen informieren oder sich um die 1420-Watt-Burmester-Beschallung kümmern, während der Fahrer mit dem HMI-Cockpit kämpft – zumindest solange, wie er dessen Bedienung noch nicht aus dem ff beherrscht. Denn Ferrari hat sein „Human-Machine-Interface“ noch einmal verfeinert. Was darin gipfelt, dass das Infotainment über ein winziges Feld auf dem Lenkrad dirigiert wird. Es ist mit seinen horizontalen und vertikalen Streichfeldern und einem „Ausführen“-Knopf in der Mitte kleiner als der Abdruck eines veritablen Männerdaumens und spielte in dem von uns gefahrenen Vorserienwagen nicht so mit, wie es sollte. An die anderen Bedieneinheiten (z.B. Klimaanlage – dazu muss man ein Rad drücken, damit es herausfährt, um es bedienen zu können) oder die kleinen, aber schönen Gangwahlhebel in der Mittelkonsole (ohne P-Funktion) kann man sich eher gewöhnen.

Der Ferrari in Coupé-Form. Ein muskulöser Oberkörper auf einer schwebend anmutenden Karosserie.

Auf der anderen Seite wundert man sich über einen Bergabfahrtassistenten, denn einen Offroad-Fahrmodus sucht man vergebens. Das Manettino bietet „Eis“, „Nässe“, „Komfort“, „Sport“ und „ESP aus“ an in Verbindung mit Fahrwerkseinstellungen von „soft“ über „medium“ bis „hart“, was im Vergleich zu Ferraris bisherigen Hardcoresportlern deutlich den Reisecharakter des Purosangue als Gran Turismo-Variante hervorhebt.

Jetzt aber das geniale V12-Triebwerk starten vom gut konturierten und sehr festen Fahrersitz aus. Trotz der Wahnsinnskraft lässt sich das gut zwei Tonnen wiegende Vollblut zunächst völlig unaufgeregt auf den Straßen bewegen. Wer die volle Power zum Beispiel fürs Überholen abrufen will, muss schlagartig für einen Kickdown sorgen, um überlegen von dannen ziehen zu können. Der Sprint von 0 auf 100 km/h gelingt übrigens in 3,3 Sekunden – was für ein SUV und somit auch für ein FSC (Ferrari Sports Car) ein exzellenter Wert ist.

Im Süden geboren, im Süden inszeniert: Der Ferrari fühlt sich unter der toskanischen Sonne wohl.

Im Alltag macht es Sinn, die „Komfort“-Einstellung zu nutzen. Kurvige Strecken machen natürlich im „Sport“-Modus am meisten Spaß. Gerade in engen Kehren wird deutlich, wie der ESP-Eingriff reduziert wird, die Elektronik hauptsächlich die Hinterräder mit Kraft versorgt, diese ganz leicht mit einlenken und die dann dank Gasstoß durchdrehenden Räder kurze Drifts zulassen.

Natürlich hat sich Ferrari auch wieder ausgiebig mit dem Sound beschäftigt. Die Krümmer aller Zylinders sind gleich lang, um beste Soundqualität zu erzielen. So tönt der Purosangue umso lauter, je höher die Drehzahlen sind (man kann das Aggregat bis 8250 Umdrehungen quälen), ohne (den Fahrer) jemals zu nerven. Und angenehmerweise verzichtet Ferrari auf prolliges Brabbeln beim Herunterschalten – was den Charakter des Purosangue als Komfortsportler unterstreicht. Wer will, kann allerdings auch die 1420-Watt-Burmester-Anlage aufreißen – dann wird’s noch melodiöser je nach Musikquelle.

Die Achtgangdoppelkupplung (7. und 8. Gang sind lang ausgelegt für Autobahnfahrten, der Rest soll für Sprintspaß sorgen) arbeitet wahnwitzig schnell. Die fetten Brembo-Bremsen halten die Kraft des SUV, der mit 2,1 Tonnen im Vergleich noch relativ leicht geraten ist, wunderbar im Zaum. Das Gefühl, dass der schwere Automobilkörper einen geradeaus durch die Kurven schieben will, gibt’s hier kaum. Das einzige, was wir wirklich schmerzhaft vermissen, ist ein Navigationssystem, auf das Ferrari erstmals seit Erfindung dieser Wegstreckenhilfe verzichtet. Der Fahrer muss sein Handy nutzen, damit sich auf dem Display im Armaturenbrett etwas tut. Laut Hersteller ist das so, weil die Kunden keine Lust auf schnell veraltendes Kartenmaterial und auf Werkstattbesuche für Updates haben. Trotzdem ruft Ferrari in Deutschland 380.000 Euro inklusive Steuern für den Purosangue auf – den man mit Werksoptionen problemlos noch 100.000 oder 120.000 Euro teurer machen kann. Nach Überweisung kann es bis zur ersten Ausfahrt allerdings noch zwei Jahre oder mehr dauern, bis man den Wagen in Empfang nimmt – wenn man nicht gerade VIP oder spezieller Freund der Firma ist.

Eine Sache bleibt noch zu klären: Wie sitzt man hinten? Kommod – die Einzelsitze bieten den gleichen Komfort wie vorne. Aber um sich dort wirklich wohl zu fühlen, muss man dem Piloten blind vertrauen. Enzo Ferrari hat niemandem wirklich vertraut, deshalb hat er wahrscheinlich auch nie hinten gesessen. Aber am Steuer des Purosangue hätte er sich wahrscheinlich wohl gefühlt. Erst recht im Alter – wegen des hohen Einstiegs…

Text: Roland Löwisch, Fotos: Ferrari

Technische Daten Ferrari Purosangue

Motor: V12

Hubraum: 6496 ccm

Leistung: 541 kW (725 PS) bei 7750/min

Max. Drehmoment: 716 Nm bei 6250/min

Getriebe: Achtgang-Doppelkupplung

Antrieb: Allrad

Länge/Breite/Höhe: 4973/2028/1589 mm

Trockengewicht: 2033 Kilo

Sprint 0-100 km/h: 3,3 Sek.

Top-Speed: 310 km/h

Preis: ca. 362.000 Euro inkl. MwSt.

Ferrari Purosangue Sport Utility Vehicle