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Himmelsgeburtstag
By Editorial Department access_time 12 min read
Open-Air-Krematorium: Im Hinduismus werden die Toten öffentlich verbrannt.
Open-Air-Krematorium: Im Hinduismus werden die Toten öffentlich verbrannt.

Das Wasser des Bagmati fließt schmutzig-grau und träge dahin. Blumen, Plastikflaschen und Holzscheite treiben auf seiner Oberfläche. Von den Scheiterhaufen am Ufer steigen Rauchsäulen auf. Ihr Qualm legt sich wie ein Schleier auf die Szene. Noch nie in meinem Leben habe ich einen Toten gesehen. Und jetzt sitze ich, sozusagen in der ersten Reihe, und blicke auf eine Art Open-Air-Krematorium. Es ist keine alltägliche Situation – besonders nicht für unseren Kulturkreis – zuzusehen, wie Menschen öffentlich verbrannt werden. Doch ich bin hier nicht allein. Viele andere Zuschauer sitzen, essen, reden und nehmen regen Anteil. Die Tempelanlage von Pashupatinath ist eines der wichtigsten Heiligtümer der Hindus. Sie liegt in der Nähe von Kathmandu und der Name bedeutet übersetzt „Herr des Lebens“. Vielleicht, weil für die Hindus der Tod nur der Übergang der Seele in einen neuen Körper ist. Und so tue ich, was alle anderen auch tun: Zuschauen, den Toten und ihren Angehörigen Respekt zollen und dabei sein, wenn die Verstorbenen auf ihre nächste Reise gehen. Denn auch ich bin hier eine Reisebegleiterin.

Die Füsse des Leichnams werden ins Wasser getaucht – eine symbolische Reinigung.

Reisen war schon immer meine Leidenschaft. Sechzig Länder habe ich bis jetzt besucht. Ich habe auf mehreren Kontinenten gelebt und gearbeitet und gehöre seit 20 Jahren zur Spezies der Business-Class-Nomaden. Aber auf diesen letzten Trip mit meiner Schwester Heidi hatte ich mich bewusst nicht vorbereitet. Es war mir genug, die Eindrücke ihrer Erzählungen als Briefing zu haben. Dieser Ort hatte sie so begeistert, als sie vor ein paar Jahren hier ein Frauenkloster besuchte, um den Tod zu meditieren. Danach packte sie ihre Krankheit und ihre Infusionen ein und brach zum Mount Everest Base Camp auf. Heidi hatte bis dahin immer für ihre Familie gelebt. Nun war sie von Rajasthan nach Nepal gewandert. Mir ist bis heute nicht klar, wie sie das, trotz ihrer Krankheit, bewältigen konnte. Selbst für mich war es nicht leicht, zum Camp hoch zu laufen. „Meine Herren, war die zäh“, dachte ich, wenn ich meinen Führer mit hochrotem Kopf fragte, wie weit es noch wäre… „Die Leute glauben, wenn sie krank sind, können sie bestimmte Dinge in ihrem Leben nie wieder tun“, hatte sie zu mir gesagt. „Ich möchte das ändern. Man kann fast alles tun, wenn man es nur wirklich will.“

Vorbereitungen für die letzte Reise von Heidis Asche.
Vorbereitungen für die letzte Reise von Heidis Asche.

Entlang des Flussufers teilen sich die Verbrennungsplätze, die Ghats, in die Arya Ghats für die höheren Kasten und die Surya Ghats für „Normalsterbliche“. In meiner unmittelbaren Nähe sehe ich zwei große Menschengruppen, die ihre Verstorbenen verabschieden. Ein aufgebahrter Köper, in ein orange-rotes Tuch gewickelt, wird auf eine Schiene gelegt. Männer lassen ihn in den Fluss hinab, um seine Füße zu benetzen und symbolisch zu reinigen. Ein Stück daneben steht ein aufgeschichteter Scheiterhaufen, aus dem Kopf und Füße des Toten herausragen. Er ist über und über mit Blumengirlanden geschmückt – orangefarbene Tagetes. Der Brahmane weist den ältesten Sohn an, den Leichnam fünfmal zu umrunden und das Feuer zu entzünden. Er trägt nur eine weiße Hose und ein weißes Tuch um den Kopf. Während die Flammen auf den mit Stroh bedeckte Körper übergreifen, spielt ein Kind unter einem Wasserstrahl und eine Frau benetzt sich im dreckigen Fluss das Gesicht. Ich bin so gefangen, dass ich fast den Grund dieser Reise vergesse. Die ganze Zeit muss ich daran denken, dass meine Schwester auch hier gestanden und Ähnliches gesehen hat. Nun erst kann ich verstehen, warum es ihr so wichtig war, dass ich sie wieder an diesen Ort bringe.

Abschiedszeremonie mit kleinen Öllämpchen.
Abschiedszeremonie mit kleinen Öllämpchen.

Das Leben und der Tod gehen hier zusammen Hand in Hand.

Unterwegs in die Ewigkeit.
Unterwegs in die Ewigkeit.

Im Januar 2013, ein paar Tage vor meinem Geburtstag, erhielt ich den Anruf. Ich war auf einem zweitägigen Business-Event. Ich solle schnell kommen, denn es stünde nicht gut. Natürlich rechnet man jeden Tag mit dieser Nachricht, wenn jemand todkrank ist. Aber ich schob vor diese Realität einen Vorhang aus Alltag und Arbeit und verschanzte mich hinter der Tatsache, dass ich mich nicht täglich mit dem Tod beschäftigen wollte. Der Gedanke daran war so schmerzhaft.

Die knapp fünfstündige Fahrt kam mir wie eine Ewigkeit vor. Ich wollte so schnell wie möglich bei Heidi sein und zugleich wünschte ich mir, noch länger in der „alten“, vom Tod unberührten Zeit zu verweilen. Eins war klar, nichts würde mehr so sein wie vorher, und die Tage waren gezählt. Wir hatten uns nicht immer nahe gestanden. Aber in den letzten zehn Jahren hatten wir wieder zueinander gefunden. Ich wusste bis dahin nicht, wie wunderschön es sich anfühlt, eine Schwester zu haben, selbst als Erwachsene. Ich war glücklich über diese Erfahrung. Und so machte ich es zu meiner Aufgabe, die verbleibende Zeit mit Heidi zu gestalten und ihr jeden Wunsch zu erfüllen.

„Ich möchte, dass du meine Asche nach Kathmandu bringst, damit sie in den Bagmati-Fluss gegeben werden kann. Machst du das?“

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Ich war täglich mehrere Stunden bei ihr und wir sprachen viel – wenn ihr danach war, sie sich gut genug fühlte und das Zusammensein mit ihren Kindern und ihrem Mann Zeit dafür ließen. „Ich möchte, dass du meine Asche nach Kathmandu bringst, damit sie in den Bagmati-Fluss gegeben werden kann. Machst du das?“

Natürlich. Ich würde einen kleinen Teil ihrer Asche nach Nepal bringen. Da es mir als Christin nicht erlaubt war, so ein Ritual an dem heiligen Fluss auszuführen, brauchten wir einen Helfer. „Schreib‘ an Arjun, er hat mich zum Base Camp begleitet.“ Sie wollte auch, dass ich einen Mönch suchte, um mit ihm gemeinsam zu meditieren, den Beginn ihrer Reise damit einzuleiten. Und ich bekam den Auftrag, ihre Beerdigung zu organisieren. Sie würde erst loslassen, wenn alles zu ihrer Zufriedenheit arrangiert war. Eine gemeinsame Freundin stand uns allen bei. Ich bekam ein detailliertes Briefing für ihren „Himmelsgeburtstag“, die Musik, das Grab, die Beisetzung. Trotz der traurigen Situation lachten wir viel und versuchten, die verbleibende Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Wir feierten sogar meinen Geburtstag mit einer guten Flasche Champagner. Wenn schon, denn schon: always with style and grace.

Es gab tatsächlich ein Buddhistisches Zentrum in Düsseldorf. Die Gemeinde hielt eine Phowa für meine Schwester ab: eine Bewusstseinsübertragung zum Todeszeitpunkt. Diese Meditationspraxis stammt aus dem tibetischen Buddhismus. Sie befähigt dazu, den Geist auf das Sterben vorzubereiten und ihn im Moment des Todes in einen befreiten Zustand zu überführen. Meine Schwester, ihre jüngste Tochter, mein Bruder und ich wurden in einer gemeinsamen Meditation für diese Reise angeleitet. Es ging um das Verlassen des Körpers und um Transformation. Leichtigkeit und Aufsteigen waren die zentralen Motive. Die traditionelle christliche Beerdigung war für Heidi zweitrangig. Wir wussten, dass nach ihrem Tod an verschiedenen Stellen auf der Erde eine Phowa-Meditation für sie gehalten würde: In einem indischen Frauenkloster, in Nepal und in der Düsseldorfer Gemeinde würden die Menschen – Internet sei Dank – vor einem Foto von Heidi meditieren. Und der heilige Fluss sollte am Ende einen guten Übergang für sie schaffen.

Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis ich mein Versprechen einlöste. Die Trennung von ihr fiel mir schwer. Ich brauchte Zeit, um Kraft dafür zu schöpfen. Es sollte eine besondere Reise werden, unsere erste und letzte gemeinsame Reise. Ich entschloss mich, mit dem Zug zu fahren, Berlin – Moskau – Ulan Bator – Peking und von dort mit dem Flugzeug nach Kathmandu. 11.500 km. Ich wollte bewusst verlangsamen, um Raum zu schaffen und mich auf den Abschied einlassen zu können.

Unterwegs mit dem Zug von Berlin über Moskau, Ulan Bator, Peking und von dort mit dem Flugzeug nach Kathmandu.
Unterwegs mit dem Zug von Berlin über Moskau, Ulan Bator, Peking und von dort mit dem Flugzeug nach Kathmandu.

Ich landete am 13. Mai 2015 in der nepalesischen Hauptstadt, einen Tag nach dem zweiten Erdbeben, das Kathmandu erschütterte. Über 8000 Menschen waren bei dem ersten Beben einen Monat zuvor umgekommen, und das zweite ließ nun unzählige beschädigte Häuser endgültig einstürzen. Freunde rieten mir von einer Einreise ab, da es zu gefährlich sei. Für mich stellte sich diese Überlegung in keinem Augenblick. Ich hatte zwei Jahre gewartet, um mich auf den Weg zu machen, alle meine Terminvorstellungen waren gescheitert, und nun litt das Land unter dem stärksten Erdbeben seiner Geschichte. Falscher Zeitpunkt? Egal. Ich war einzig und allein hier, um den letzten Wunsch meiner Schwester zu erfüllen.

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Ich landete einen Tag nach dem zweiten Erdbeben, das Kathmandu erschütterte, in der nepalesischen Hauptstadt.
Ich landete einen Tag nach dem zweiten Erdbeben, das Kathmandu erschütterte, in der nepalesischen Hauptstadt.

Doch zunächst musste ich Arjun, Heidis Mount-Everest-Guide, treffen. Unsere Verbindung war eine Mail, die ihm Heidi kurz vor ihrem Tod geschrieben hatte. Er hatte mir bald darauf geantwortet, aber ich war bis unmittelbar vor meiner Abreise nicht in der Lage gewesen, seine Mail zu lesen und ihm zurück zu schreiben. Ich war gespannt und aufgeregt, doch – unglaublich – es schien für ihn ok zu sein, dass ich mich so lange nicht gemeldet hatte. Arjun hieß mich auf die netteste Art und Weise willkommen und wir kommunizierten, als ob keine Zeit dazwischen gelegen habe und wir uns schon lange kannten. Arjun und sein Neffe Raj brachten mich im gleichen Guest House unter, in dem auch Heidi gewohnt hatte. Es schien mir, als ob die große Ähnlichkeit zwischen meiner Schwester und mir es erleichterte, uns miteinander vertraut zu fühlen. Er erzählte mir von ihrer Zeit in Nepal und ich konnte noch einmal an dieser Reise Anteil nehmen, die ihr ganzes Leben – und ihren Tod – verändert hatte.

Frühstück mit elf Waisenkindern. Sie hatten nach dem Erdbeben kein Dach mehr über dem Kopf.
Frühstück mit elf Waisenkindern.

Auf dem Weg zur Tempelanlage fuhren wir durch die zerstörte Stadt. Es war das erste mal, dass auch meine Reiseleiter das Ausmaß der Schäden sahen. An ihrer Bestürzung konnte ich die Katastrophe ermessen. Sie mussten mit den Tränen kämpfen. Wir sahen fast überall eingestürzte Häuser, Trümmer, Zeltlager und viele Menschen ohne Unterkunft. Je länger wir liefen, desto schlimmer erschien es uns. Die Stadt war teilweise von Strom und Trinkwasser abgeschnitten. Überall wurde aufgeräumt, weggeschoben und abgestützt. Ich war sehr berührt und spürte den tiefen Wunsch, zu helfen.

„Einen Tag nach dem zweiten Erdbeben, das Kathmandu erschütterte, landete ich in der nepalesischen Hauptstadt.“

Ich hatte in China für UNICEF gearbeitet und seither den Gedanken gehegt, irgendwann in meinem Leben etwas für Kinder zu tun. Dies war die Zeit und der Ort. Der Ort, der meiner Schwester so viel bedeutet hatte. Ich erklärte Arjun meinen Wunsch, und er versprach, sich darum zu kümmern.

Neue Freundschaften entstehen.
Neue Freundschaften entstehen.

Wir stehen am Fluss. Arjun hat ein paar Blumen, eine Kerze und Räucherstäbchen arrangiert. Er spricht ein Gebet, streut Heidis Asche auf die Blumen und setzt alles ins Wasser. „Es ist jetzt Zeit, sie loszulassen“, sagt er. Ich blicke den davontreibenden Blüten hinterher und weine. Jetzt ist alles so, wie sie es haben wollte. Obwohl der Ort mit Trauer und Abschied zu tun hat, strahlt er Ruhe, Besonnenheit, Liebe und Weite aus. Fast so, als ob man angekommen ist, um voran zu schreiten. Ich fühle, dass jetzt alles gut ist und seinen Gang geht. Nichts ist falsch.

Schlafendes Waisenkind.
Schlafendes Waisenkind.

Die nächsten fünf Tage verbrachte ich mit Kindern eines zerstörten Waisenhauses, zu denen mich Arjun gebracht hatte. Ich musste sie in der Regenzeit mit einem provisorischen Zelt zurücklassen und versprach, wieder zu kommen. Ein halbes Jahr später war ich wieder dort und fand eine Wohnung für die Leiterin und ihre elf Schützlinge. Mit dem Geld, das ich gesammelt hatte, ließ ich Stockbetten bauen, kaufte eine Waschmaschine, Solarlampen, Schulrucksäcke, Handtücher und zahlte Strom und Miete für eineinhalb Jahre im Voraus.

„Ich fühle, dass jetzt alles gut ist und seinen Gang geht. Nichts ist falsch.“

In wenigen Tagen fahre ich wieder hin. Diesmal begleitet von meinem Bruder und Freunden, um die Wohnung weitere sechs Monate zu finanzieren und ein Grundstück zu kaufen. Wir wollen ein neues Heim für sie bauen. Und dann laufen wir gemeinsam zum Annapurna Base Camp.

Text und Fotos: Birgit Baier

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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