Wie sieht ein Hidden Champion heute eigentlich aus? Die Spur führt nach Dürmentingen im Landkreis Biberach, direkt beim Hausberg Oberschwabens, dem Bussen. Vor uns steht Wolfang Kettnaker, weißes Hemd, Jeans, Dreitagebart, längere, nach hinten gekämmte Haare. Mittelständisch, perfektionistisch, innovationsgetrieben. Als Bub saß er auf der Hobelbank des Großvaters, einem Tischler und Möbelhändler; als er 23 Jahre alt war, starb der Vater an den Folgen eines Herzinfarktes. Kettnaker hatte plötzlich eine Riesenverantwortung, Flausen konnte er sich aus dem Kopf schlagen. Das Gebot der Stunde: Den inzwischen zu einem Systemmöbelhersteller gewachsenen Betrieb weiterführen, Witterung aufnehmen, was die rasanten Veränderungen der Einrichtungsbranche betrifft, das Profil schärfen, herausstechen aus der großen Masse.
Der leidenschaftliche Porschefahrer Kettnaker nutzte seine Chance. Mit Chuzpe, Charme und Sturheit machte er die Firma zu dem, was sie heute ist: eine Perle. Makelloses Erscheinungsbild, kostbar, begehrlich, der letzte verbliebene unabhängige Kastenmöbelhersteller in Deutschland.
Früher produzierte man Vollholzmöbel in Fichte, Erle und Buche, heute steht der Begriff „Bespoke Furniture“ auf den Fahnen – maßgefertigte Möbel, produziert mit erlesenen Materialien, modernster Fertigungstechnik und handwerklicher Perfektion. „Jedes Objekt ist ein Einzelstück“, sagt Wolfgang Kettnaker. Obwohl seine Produkte als modulare Systeme konzipiert wurden, sind von 10.000 zugesägten Einzelteilen kaum drei identisch.„Das wissen unsere Kunden zu schätzen.“ Was im Jahr 1870 mit der Eröffnung einer Schreinerei durch Carl Kettnaker begann, entwickelte sich zu einer Firma, die mit hundert Mitarbeitern rund vierzehn Millionen Euro Umsatz im Jahr verbucht und über Händler in Moskau, Dubai und Shanghai verfügt.
Dazu gibt es immer wieder auch Auszeichnungen wie den Interior Innovation Award, ausgelobt vom Rat für Formgebung und der imm cologne für den Tisch SOMA.Es ist der erste Tisch von Kettaker mit dem Magnetwechselsystem für Oberflächen, das bereits vom gleichnamigen Wohnprogramm bekannt ist. Die Idee dahinter: Durch die Trennung von Oberfläche und konstruktivem Korpus lässt sich das äußere Erscheinungsbild der SOMA-Möbel nach Belieben verändern. Die nur sechs Millimeter starken Blenden werden von kraftvollen, im Korpus eingelassenen Magneten gehalten. Sie können problemlos von Hand ausgewechselt und neu angeordnet werden. Das ästhetische Fugenbild der Front lässt nicht unbedingt auf die Funktion dahinter schließen. Hinter einer gestalterischen Schubladenfront kann sich auch eine Tür befinden. Oder es lassen sich Schrankformen planen, die beinahe wie ein minimalistisches Gemälde wirken.
Der Variantenreichtum bei der Oberflächengestaltung reicht von einer breiten Auswahl an Lacktönen über edle Holzfurniere bis hin zu eloxierten Aluminium-Verbundwerkstoffen. Auch Keramik, Glas und eine Vollverspiegelung können auf Kundenwunsch zum Einsatz kommen. Kettnaker hat sich mit seinem Kreativteam über die Jahre einen Zauberbaukasten erschaffen, der keinem gestalterischen Diktat folgt, sondern dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Sind die Kunden da nicht manchmal überfordert?
Jedes Objekt ist ein Einzelstück. Das wissen unsere Kunden zu schätzen.
„Das ist sicher so“, räumt Wolfgang Kettnaker ein, „und deswegen brauchen wir unseren Händler als Stilberater.“ Er sei derjenige, der ein perfekt gemachtes Instrument zur Verfügung gestellt bekommt und dann wie in der Musik auf diesem die richtigen Töne treffen muss. „Es gibt Einrichtungsberater und es gibt Möbelverkäufer. Beim Einrichtungsberater liegt der Schwerpunkt auf der Beratung“, so Kettnaker. „Die Fachberater vor Ort sind eigentlich unsere Designer im Austausch mit den Endkunden.“ Diese würden sich mit dem jeweiligen persönlichen Lebensumfeld befassen, die Bedürfnisse erspüren und ihre Designkompetenz mit einbringen. Durch eine ausgefeilte Planungssoftware könne im Dialog mit dem Kunden jedes noch so kleine Detail frei konfiguriert werden. In Dürmentingen kommen diese Daten dann an, werden final gecheckt und schließlich eingespeist in die Produktion.
Um an diesen Punkt zu kommen, sagt Wolfang Kettnaker nicht ohne Stolz, sei es freilich ein steiniger, riskanter Weg gewesen. Man habe sich Schritt für Schritt von der alten Vertriebsstruktur und den Partnerschaften mit den Einkaufsverbänden des Möbelhandels verabschieden müssen. Dort gehe es in der Regel nur um Masse und um den Preis.
Eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Produkt selbst finde man nur selten. „Als ich damals die Geschäfte übernahm, war mir klar, dass ich mich für einen anderen Weg entscheiden muss, um für die Zukunft erfolgreich zu sein“, erinnert sich Wolfang Kettnaker. „Dies“, so gibt er rückblickend zu, „war ein ziemlicher Eiertanz“. Von den alten Strukturen habe man sich nicht so schnell trennen können und neue Partner ließen sich nur langsam gewinnen. „Es ist wie beim Hausbau. Du kannst einerseits nur Fassadengestaltung machen oder eben kernsanieren. Wir haben damals kernsaniert. Manchmal hatte ich schon Bammel davor, dass die Firma den Bach runtergeht und ich kaputt mache, was der Papa aufgebaut hat.“
Letztendlich aber ging Kettnakers Plan auf. Sein Traum war, auf Augenhöhe zu operieren mit den großen italienischen Möbelmarken, ein einzigartiges Design- und Qualitätsversprechen „Made in Germany“ zu liefern. Anfang der Zweitausenderjahre verdoppelte sich der Umsatz und es kamen einige glückliche Marktentwicklungen dazu, wo einzelne Wettbewerber verschiedene Fehler gemacht haben und Kettnaker in der Folge mehr Ausstellungsfläche bei Fachhändlern gewinnen konnte. Auf einmal, so freut er sich, sei ein Art Hype entstanden.
Gern folgt der Unternehmer Einladungen zu Händlerevents, wo er Kontakt hat zu den Menschen, die sich für seine Möbel entschieden haben. Die Freude über die Kaufentscheidung, die Glücksmomente, jeden Tag aufs Neue die Qualität und die Einzigartigkeit der gekauften Stücke zu spüren, sei in diesen Gesprächen immer wieder Thema. Ein emotionaler Mehrwert steht für Wolfgang Kettnaker im Mittelpunkt der Unternehmensphilosophie. Gerade im Luxussegment, so sagt er, wolle der Kunde nichts von der Stange kaufen. Ihm komme es darauf an, wirklich sein persönliches Einzelstück zu bekommen. „Deshalb kann man bei uns sogar die Farbe der Schublade innen konfigurieren.“ Auch ein spezielles Furnierbild, das um die Ecke eines Möbels herumlaufe und sich an der Seite exakt fortsetze, sei ein solches Detail. Und dafür seien die Menschen auch bereit, einen entsprechend höheren Preis zu bezahlen.
„Billig ist oft zu teuer“, sagt er. Wolfgang Kettnaker spielt damit auf die Frage von Nachhaltigkeit an.„Gerade in einer mobilen Gesellschaft, wo Menschen berufsbedingt häufiger mal umziehen, sollte sich das Investment in die Einrichtung auch längerfristig auszahlen“, glaubtKettnaker. Sein Anspruch sei es, dass seine Kreationen das Zeug zum Klassiker haben. Also lang gut funktionieren, ästhetisch die Zeit überdauern und ihren Besitzer über verschiedene Lebensphasen hinweg begleiten. „Anders als eine festinstallierte Schrankwand kann ich eine aus einzelnen Modulen bestehende Möblierung gut mitnehmen und in einer neuen Umgebung verwenden.“
Das Möbel dient heute weniger dem Stauen und Aufbewahren, sondern wird eher zum ästhetischen Fixpunkt.
Auch das Thema des sich rasant verändernden Bedürfnisses nach Stauraum treibt Wolfang Kettnaker um. „Ich wache manchmal in der Nacht auf mit dem Gedanken: Wie viele Möbel braucht der Mensch in zehn Jahren noch?“, gesteht er. „In den Siebzigerjahren haben wir noch kilometerlang Schrankwände aufgebaut.“ Im Zeitalter der Tablets und Streamingdienste brauche das heute kein Mensch mehr. Früher habe man noch eigene Profile gepresst für CDs und DVDs. Heute werde die alte CD-Sammlung eingelesen und die Daten auf dem Server archiviert.
„Das Möbel dient heute weniger dem Stauen und Aufbewahren“, glaubt Kettnaker, „sondern wird eher zum ästhetischen Fixpunkt wie ein Bild oder eine Skulptur.“ Im Zuge dieses Trends seien die Möbel immer kleiner geworden. Lowboards, Sideboards und Highboards entwickelten sich bei Kettnaker zu Bestsellern. „Also weniger Stauräume, dafür aber besser, schöner, wertiger gemacht. Insofern ist der Preis gestiegen pro Kubikmeter umbauten Raum.“
Seit ein paar Jahren werde verstärkt auch das Thema Vitrine aufgegriffen. „Hier geht es darum, etwas zu zeigen, was Ausdruck meiner Persönlichkeit ist, etwa eine schöne Sammlung von Modellautos oder archäologische Fundstücke.“ Manchmal diene die beleuchtete Vitrine aber auch einfach nur als Lichtobjekt, das beitrage zum Ambiente des Raumes. Wie sich Medientechnik mit all den Kabeln, Festplatten und Routern geschickt in die Einrichtung integrieren lässt, kann man bei Kettnaker ebenfalls studieren. Nicht umsonst gilt Schwaben als das Land der Tüftler und Erfinder.
So haben die Akustikmöbel speziell vergitterte Klappen, hinter denen das Soundsystem verschwindet. Kabel bleiben im Verborgenen und sind trotzdem leicht zugänglich. Fachböden aus Lochblech ermöglichen eine gute Belüftung. Sogar ein Infrarotauge, welches die Signale der Fernbedienung ins Möbelinnere leitet, ist erhältlich. Eine ähnliche Vielfalt durchdachter Details findet sich auch für den Bau von Ankleiden.
Ich wache manchmal in der Nacht auf mit dem Gedanken: Wie viele Möbel braucht der Mensch in zehn Jahren noch?
Das sich im Möbelhandel stark ausbreitende Thema E-Commerce schreckt Wolfgang Kettnaker nicht. „Wir müssen uns sicher für die Zukunft hybride Wege überlegen“, denkt er. Als zusätzliche Alternative konfiguriere und bestelle der Kunde sein Wunschteil im Netz und der Fachhändler vor Ort kümmere sich dann um Auslieferung und die perfekte Montage. Dafür erhalte dieser einen Teil der Marge und gewinne zusätzlich einen neuen Kundenkontakt. Fantasie und Pragmatismus sind für den geschäftstüchtigen Schwaben Wolfgang Kettnaker nicht zwangsläufig ein Gegensatzpaar.
www.kettnaker.com
TEXT//THOMAS GARMS
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