Die Spielwiese von Marcio Kogan ist eigentlich die tropische Landschaft. Der Architekt aus São Paulo hat sich vor allem mit extravaganten Villen in seiner brasilianischen Heimat einen Namen gemach: Gebäude, bei denen innen und außen so selbstverständlich ineinander greifen, als gäbe es überhaupt keine Trennung mehr. In bislang unbekanntes Terrain hat sich Kogan mit seinem Studio mk27 in Kanada begeben. „Flag House“ heißt das Feriendomizil für eine Familie in Whistler, einer 14.000-Einwohner-Stadt rund 115 Kilometer nordöstlich von Vancouver. In unmittelbarer Nähe liegt das Skigebiet Whistler-Blackcomb, wo die Ski-Alpin-Wettkämpfe der Olympischen Winterspiele 2010 stattfanden. Kurzum: Einen stärkeren Kontrastpunkt zu seinen übrigen Projekten hätte Kogan kaum wählen können. Doch genau das machte den Reiz für ihn aus.

Rund zehn Jahre Planungs- und Bauzeit sind vergangen, bis das „Flag House“ schließlich gebaute Wirklichkeit wurde. Die konventionelle Idee, wie das Bauen in der Kälte auszusehen habe, wurde von Studio mk27 einfach auf den Kopf gestellt. „Ich wollte hier die gleiche Verbindung zwischen Innen- und Außenbereich schaffen wie in wärmeren Klimazonen. Unabhängig von der geografischen Lage ist der Designprozess derselbe“, sagt Marcio Kogan. Das gelingt vor allem durch die transparente Materialität des Gebäudes, die alles Rustikale und Wehrhafte von sich weist. „Durch die Arbeit mit einer großen Glasbox öffnet sich das Haus zur umgebenden Natur und lädt die Außenwelt ein. Gleichzeitig wirkt das Volumen dadurch schwerelos, als würde es über dem Boden schweben“, erklärt der Architekt. Nicht nur seine beiden Initialen finden sich im Namen des Büros wider, sondern ebenso seine persönliche Glückszahl.

Die Herausforderung bestand darin, ein Gefühl der Zugehörigkeit zur umgebenden Natur zu erzeugen, ohne auf die notwendige Isolierung des Hauses zu verzichten. Dazu wurde das Gebäude in zwei Riegel unterteilt, die aufeinander aufliegen. Der untere ist mit dunklen Metallpaneelen verkleidet, deren Farbigkeit mit dem felsigen Untergrund korrespondiert. Nur wenige Fenster durchbrechen die zum Hang ausgerichtete Fassade, die dafür ausgelegt ist, dass sich Schneeverwehungen an ihr ablagern können. Dann verschmilzt die Gebäudehülle regelrecht mit der umliegenden Landschaft, gibt dem Bauwerk im Wortsinne Erdung.

Ganz anders das Obergeschoss, das über den Sockel deutlich auskragt: Ein gläsernes Volumen, dessen kälteresistente Mehrfach-Scheiben von der Decke bis zum Boden reichen. Ihre Oberflächen sind nach außen leicht verspiegelt, sodass sie die Wipfel der umliegenden Berge und die zugeschneiten Bäume reflektieren. Der horizontale Glaskörper wirkt so wie eine riesige Cinemascope-Leinwand, auf der ein bildgewaltiger Film zu sehen ist. Die Architektur fügt sich damit nicht nur harmonisch in ihre Umgebung ein. Sie verstärkt vielmehr ihre Wirkung, indem sie eine doppelte Perspektive auf die winterliche Bergwelt von British Columbia gewährt. „Diese Geste, den Berg nach außen zu projizieren, über dem Gelände zu schweben, entspricht dem Wunsch nach Integration in die Landschaft“, bringt Marcio Kogan seinen Anspruch auf den Punkt.

In den Innenräumen setzten die bodentiefen Glasfronten das Panorama spektakulär in Szene. Das Haus wirkt wie ein Schaukasten in die Natur. Die Decke ist mit hellen Holzlamellen verkleidet, die einen warmen Kontrapunkt zum hellgrauen Steinboden aus lokalem „Ocean Pearl Flagstone“ setzen. Für diesen wurden bewusst keine präzise rechtwinklig geschnittenen Platten verwendet. Vielmehr sind die ursprünglichen Dimensionen der zerschnittenen Felsblocke erkennbar, wodurch der Boden ein unregelmäßiges Muster aus organischen, in sich greifenden Formen und Strukturen erhält. „Wir denken Architektur nie ohne Inneneinrichtung. Sie sind Teil derselben Sache. Ein Gebäude ohne Einrichtung ist eine Skulptur und keine Architektur“, sagt Diana Radomysler, die die Interieur- und Designabteilung bei Studio mk27 leitet.

Natürliche Materialien bilden die Basis der gesamten Innenraumgestaltung. Das gilt auch für die Möbel, Teppiche und Leuchten. „Sie geben einem Haus Gefühl und Menschlichkeit. Man hat nie den Eindruck eines kalten Ortes. Es ist immer warm und voller Leben“, betont Mariana Ruzante, die als Senior Designer für Studio mk27 tätig ist. Holz, Leder und Stein vermitteln Wertigkeit und Komfort, sprechen die Sinne an. So wie beim großen Esstisch „Minguren II“ der japanischen Manufaktur George Nakashima, dessen Platte aus einem einzigen Baumstamm gesägt wurde. Auch mehrere Klassiker sind im „Flag House“ zu sehen – vor allem von skandinavischer Provenienz. Schließlich haben die Gestalter aus dem hohen Norden seit jeher ein besonderes Gespür für die Natur.

Im Wohnzimmer mit offener Küche fallen zwei Exemplare des „Circle Chairs“ (1949) von Hans Wegner ins Auge. Die Möbel entfalten eine skulpturale Kraft dank eines perfekten Ringes aus laminierten Holzlamellen, in den ein filigranes Netz aus Kordeln eingespannt ist. Die Schnüre tragen eine gepolsterte Sitzfläche, während der Rücken frei bleibt. So wandern die Blicke durch das Möbel hindurch – und können hier ihren Weg durch die Panoramafenster hinaus in die Landschaft fortsetzen. Noch eine weitere Möbelikone des dänischen Designers bestimmt den großzügigen Wohnbereich mit freistehendem Kamin: der von PP Møbler produzierte „Flag Halyard Chair“ aus dem Jahr 1950.

Hans Wegner fand die Inspiration zu diesem ungewöhnlichen Möbel bei einem Strandurlaub, als ihm die strapazierfähigen Seile ins Auge fielen, mit denen Flaggen im Wind befestigt wurden. Also übertrug er das Material in den Möbelbau und schuf dazu ein tragendes Metallgestell, das mit seinen kantigen Proportionen die Formensprache eines „Lotus Esprit“ oder „Lamborghini Countach“ um fast drei Dekaden vorwegnahm. Ein schönes Detail: Um den Sitzkomfort zu steigern, fügte Wegner dem Sessel ein kuscheliges Schafsfell hinzu, das an keinem Ort passender erscheint als hier vor der spektakulären Aussicht in die kanadischen Berge.

Der markante Sessel ist auch im Master-Bedroom zu sehen, der ebenso im verglasten Obergeschoss liegt wie die Wohnräume. Unmittelbar daneben ragt ein Kamin von der Decke herab, ohne den Boden zu berühren. Hierbei kommt das Modell „Gyrofocus“ zum Einsatz, das Dominique Imbert 1968 für den französischen Hersteller Focus entworfen hat und mit einer organischen, muschelartigen Öffnung der Feuerstelle überrascht. Ebenfalls im Raum finden sich mehrere Entwürfe von Studio mk27 wie ein maßgefertigtes Bücherregal aus schwarzem Metall sowie die freistehende Badewanne „DR“, die von Agape produziert wird. Der Korpus mit geschwungenen Konturen ist außen mit dunklem Pappelschichtholz verkleidet. Wird die Wanne gefüllt, erweckt sie Assoziationen an einen miniaturisierten Bergsee.

1.130 Quadratmeter Wohnfläche verteilen sich über drei Ebenen. Zwei Kinderzimmer, ein Fernsehraum, eine Bar sowie ein Homeoffice sind zusätzlich im Obergeschoss untergebracht. Das Erdgeschoss nimmt drei Gästeschlafzimmer, ein Kaminzimmer mit mehreren „Chieftain Chairs“ (1949) von Finn Juhl, ein Schwimmbad, eine finnische Sauna, eine Dampfsauna, Umkleiden sowie mehrere Lagerräume für Skier, Schneeschuhe und andere sperrige Winterausrüstung auf. Auf dieser Ebene „kann die Familie das Haus auf Skiern verlassen und wieder erreichen und direkt ins Interieur hineinrutschen. Das Haus ist perfekt auf alles vorbereitet und mit Aktivitäten in der Natur verbunden“, sagt Suzana Glogowski, die als Co-Architektin das Projekt zusammen mit Marcio Kogan geplant und umgesetzt hat.

Mit filmreifen Qualitäten punktet das Untergeschoss. Nachdem die Hausbewohner und Gäste ihre Fahrzeuge in der Tiefgarage geparkt haben, gelangen sie durch gläserne Türen in einen ungewöhnlichen Empfangsraum: Sie finden sich im bestens bestückten Weinkeller des Hauses wieder, wo die Flaschen horizontal liegend hinter Glaswänden wie Schmuckstücke ausgeleuchtet werden. Wie schon im Obergeschoss und Erdgeschoss sind die Decken hier mit feingliedrigen Holzlamellen verkleidet, während für die fensterlosen Wände ganzflächige Holzpaneele zum Einsatz kommen, die bündig mit den eingelassenen Türen abschließen. Versteckte Lichtleisten bringen das Naturmaterial zum Leuchten. Sie verstärken seine wohnliche Wärme und erzeugen ein Gefühl der Geborgenheit. Man wähnt sich in einer gemütlichen Höhle, wo zwei weitere „Circle Chairs“ von Hans Wegner wahlweise zur Verschnaufpause oder Weinprobe einladen. Unterhalb der Treppe, die hinauf ins Erdgeschoss führt, haben Marcio Kogan und sein Team ein gelbes Vintage-Schneemobil in Szene gesetzt: wie eine motorisierte Skulptur, die sich staunend betrachten läßt. Und doch scheint sie jederzeit bereit zu sein, auf Anhieb ins nächste Abenteuer zu starten. Mehr James-Bond-Feeling geht eigentlich nicht.
Text: Norman Kietzmann
FAKTEN
Projekt: Flag House
Ort: Whistler, Kanada
Architektur: Marcio Kogan, Studio mk27
Co-Architektin: Suzana Glogowski, Studio mk27
Interieur: Diana Radomysler, Studio mk27
Projektteam: Elisa Friedmann, Eline Ostyn, Pedro Ribeiro
Planungs- und Bauzeit: 2012-2022
Grundstücksfläche: 8.100 m²
Wohnfläche: 1.130 m²