Sterneküche und Nachhaltigkeit? Jahrzehntelang war das ein Widerspruch in sich. Und noch heute jagen manche Küchenchefs auf der Suche nach dem ultimativen Gaumenkitzel rund um den Globus nach Zutaten, so dass am Ende nicht selten Viktualien aus 5 Kontinenten auf dem Teller landen. Doch längst hat die Diskussion um einen verantwortungsvolleren Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen auch die Welt der Sterne und Hauben erreicht.

Einer der Vorreiter dieser Bewegung ist der Südtiroler 3-Sterne-Koch Norbert Niederkofler, der mit seiner Cook the Mountain Philosophie bereits seit über 15 Jahren synonym für eine regional verankerte Spitzenküche steht, die in seinem Fall ausschließlich auf alpinen Zutaten basiert. Tatsächlich war der Niederkofler der weltweit erste Küchenchef, der trotz konsequentem Verzicht auf klassische Luxusprodukte und einer radikal an Nachhaltigkeitskriterien ausgerichteten Küche drei Sterne erringen konnte.

Was ihn dabei antreibt, ist nicht nur ein tiefer Respekt vor der Natur und ihren Rhythmen, sondern auch vor den Menschen in den abgelegenen Bergregionen Südtirols, ihren Traditionen und Geschichten, die der Küchenchef mit seinen Gerichten zu erzählen versucht. Zu den Grundpfeilern von Cook the Mountain zählt deshalb vor allem kompromisslose Regionalität. So findet man bei Niederkofler weder Olivenöl noch Zitrusfrüchte, stattdessen arbeitet das Team mit Traubenkernöl und säuerlichen Beerenauszügen. Und statt Hummer und Steinbutt gibt es eben Flusskrebse oder Forellen. Aber auch unzählige Wildkräuter und seltene Obst- und Gemüsesorten kommen auf den Tisch. Rund 500 Produkte aus dem Alpenraum haben so mittlerweile den Weg in Niederkoflers Küche gefunden. Die meisten davon stammen von Kleinstproduzenten, den Rest sammelt das Küchenteam selbst in Südtirols Wiesen und Wäldern. Da frische Produkte im Winter und Frühjahr rar sind, wird zudem viel eingekocht, geräuchert, getrocknet oder fermentiert.

Ende der 2000er Jahre wurde Niederkofler für diesen Kilometro Zero-Ansatz im konservativen Südtirol noch als Spinner belächelt. Heute lacht niemand mehr. Stattdessen hat Niederkofler inzwischen einer ganzen Generation junger Küchenchefs seinen Stempel aufgedrückt und in Zusammenarbeit mit der Universität Bozen einen Studiengang entwickelt, der sich explizit Küche und Weinen aus Bergregionen widmet, mit dem Ziel, die fragile Naturlandschaft des Alpenraums mit seiner einzigartigen Biodiversität zu erhalten, indem das Bewusstsein von Gästen, Gastronomen und Produzenten gleichermaßen geschärft wird. Ebenso wichtig wie die Rückbesinnung auf die Region ist dem Küchenchef das Thema Lebensmittelverschwendung. Deshalb gibt es für ihn so etwas wie Abfall nicht. Das bedeutet beispielsweise, dass in Niederkoflers Restaurants – egal ob Sternelokal oder Berggasthof – nicht nur Prime Cuts aufgetischt werden, sondern immer das ganze Tier verarbeitet wird. Aber auch für Kartoffelschalen, Fischschuppen und Karkassen, ja selbst das Kochwasser der Gemüse hat sein Team Verwendung gefunden. Nicht zuletzt setzt der 63-Jährige in seiner Küche auf traditionelle Gartechniken: Statt Sous vide oder Niedertemperatur-Garen ist offenes Feuer angesagt. Doch gerade, weil sich Niederkofler und sein Küchenchef Mauro Siega nicht hinter technischen Sperenzchen verstecken, besitzt ihre Küchenstil einen völlig eigenständigen, unverwechselbaren Charakter. Vielleicht auch deshalb resümierte der Guide Michelin bei der Verleihung des dritten Sterns 2017: “Die Begegnung mit dieser Küche ist keine Mahlzeit, sondern eine unvergessliche menschliche Erfahrung“.

Nachdem Niederkoflers Restaurant St. Hubertus, in dem er 20 Jahre am Herd stand, Ende 2022 mit dem Abriss des Hotels Rosa Alpina seine Pforten schloss, eröffnete der Küchenchef im Juli 2023 im beschaulichen Bruneck sein neues Konzeptrestaurant Atelier Moessmer – Norbert Niederkofler, welches nur wenige Monate nach dem Start sensationell wieder mit drei Michelin-Sternen und einem grünen Stern für besondere Nachhaltigkeit geadelt wurde. Untergebracht ist das Atelier in einer repräsentativen, ehemaligen Unternehmervilla inmitten eines weitläufigen Parks auf dem Gelände der Tuchfabrik Moessmer. Der produziert seit 1894 in dem mehrfach zur lebenswertesten Kleinstadt Italiens gekürten Örtchen Stoffe von höchster Qualität und beliefert unter anderem Topmarken wie Louis Vuitton, Prada oder Brunello Cuccinelli. Da haben also gleich zwei Qualitätsfanatiker zusammengefunden.

Als wir Niederkofler an einem wolkenverhangenen Junisamstag zum Lunch besuchen, empfängt uns der Küchenchef, lässig gekleidet in beigefarbener Chino und dunkelblauen Segeltuchschuhen, über denen er eine schneeweiße Chefjacke trägt, gemeinsam mit Restaurantleiter und Chefsommelier Lukas Gerges bereits an der schweren doppelflügeligen Eingangstür und gibt uns zunächst eine kleine Tour durch sein neues Reich. Das erinnert mit seinen intimen Salons, der Bibliothek und dem Wintergarten auf den ersten Blick tatsächlich eher an ein repräsentatives Wohnumfeld als an ein Restaurant. Die offene Küche, um die sich ein U-förmiger Chefstable zieht, an dem bequem 12 Gäste Platz finden, ist in einem voll verglasten Anbau untergebracht. Angeboten wird mittags wie abends nur ein saisonales Menü – auch das ein Beitrag zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen – das in gut 12 Gängen zelebriert wird.

Zu unseren Favoriten auf dem Teller zählen dabei ein cremiges Risotto mit Forellen-Bottarga, geräucherter Butter und Kiefernöl oder das Tiroler Grau Vieh mit Kimchi von fermentiertem Obst und Gemüse.
Die Aromen sind intensiv, ja teilweise fordernd und rufen unwillkürlich Assoziationen an Südtirols Wälder und seine archaischen Berglandschaften in uns wach. Niederkoflers Gerichte isst man nicht mal so eben nebenbei. Aber gerade das macht den Unterschied zwischen einem x-beliebigen Sternerestaurant, an dessen Menü man sich schon nach ein paar Tagen kaum mehr erinnern kann und einem Aromenmagier vom Kaliber Niederkoflers, der Gaumen und Intellekt gleichermaßen begeistert. Anders als bei den Zutaten für seine Teller-Kunstwerke drückt Niederkofler beim Wein schon mal ein Auge zu. Das heißt, auch wenn Südtiroler Weine eindeutig den Schwerpunkt der Karte bilden, finden sich darauf auch Spitzentropfen aus Deutschland, Frankreich und anderen renommierten Anbaugebieten der alten Welt, was nicht zuletzt eine kalkulatorische Entscheidung ist, wie Sommelier Gerges freimütig zugibt. So finden sich in unserer Weinbegleitung unter anderem ein Großes Gewächs des Moselwinzers Clemens Busch und ein feingliedriger Lagen-Barolo. Highlight ist aber zweifellos die limitierte Weißburgunder Riserva Art von Abraham in St. Michael/Eppan – einer von Südtirols Rising Stars.

Übrigens ist es gar nicht so einfach im Atelier einen Tisch zu bekommen. Deshalb empfiehlt es sich, ein Zimmer in einem Partnerhotel des Spitzenkochs zu buchen – dann hat man Vorrang bei der Reservierung. Wir haben uns für das Hotel Petrus entschieden, dessen Besitzerfamilie Aichner seit Jahren eng mit dem Spitzenkoch befreundet ist. Nicht zuletzt hat das Haus, in dem die drei Juniorchefinnen Brigitte, Christina und Daniela den Ton angeben und in dem auf Handgemachtes und Authentisches ebenso viel Wert gelegt wird wie bei Niederkofler, mit dem Gourmetrestaurant Kaminstube unter Ägide von Küchenchef Hannes Baumgartner selbst eine der kulinarischen Topadressen Südtirols im Portfolio.
Eine weitere Möglichkeit, Niederkoflers Küche zu erleben, ist sein AlpiNN – Food Space & Restaurant. Als Teil des LUMEN Museums für Bergfotografie auf dem Gipfel des Brunecker Hausbergs Kronplatz genießen Gäste hier auf 2.275 Metern Höhe neben den regional inspirierten Kreationen auch ein atemberaubendes 360º Bergpanorama auf Südtirols Gipfel.
Text: Thomas Hauer
Weitere Infos:
www.ateliernorbertniederkofler.com
www.hotelpetrus.com
www.alpinn.it