Albiera Antinoris Wort hat in Italiens Weinwelt Gewicht. Nur einen Steinwurf vom Stammsitz ihrer Familie entfernt, einem imposanten, 1506 von Niccolò di Tommaso Antinori erworbenen Renaissance Palazzo in der Florentiner Altstadt, treffen wir die amtierende Präsidentin der Marchesi Antinori S.p.A. an einem warmen Aprilabend in einer Weinbar zum Aperitif. Als erste Frau in der rund 640-jährigen Geschichte der toskanischen Winzerdynastie, die ihr Urahn Giovanni di Piero Antinori im Jahre 1385 mit seinem Eintritt in die Corporazione dei Vinattieri, die Florentiner Zunft der Weinhändler, begründet hat, leitet sie seit 2017, unterstützt von ihren Schwestern Allegra und Alessia, in mittlerweile 27. Generation die Geschicke des schildernden Familienimperiums, zu dem heute mehr als ein Dutzend Spitzenweingüter gehören.

Obwohl oder vielleicht auch gerade deshalb, weil Albiera Antinori in ihrem schlichten beigen Hosenanzug, ganz ohne Schmuck oder aufwendige Accessoires, im Vergleich zum herausgeputzten Florentiner Geldadel, der das Lokal ansonsten bevölkert, demonstrativ bescheiden auftritt, ist der Respekt, den die Alteingesessenen ihr entgegenbringen, beinahe mit Händen greifbar.

Diesen Respekt, der längst nicht mehr nur dem großen Namen gilt, hat sich Albiera allerdings hart erarbeiten müssen: als älteste Tochter von Weinvisionär Piero Antinori, der heute die Position eines Ehrenpräsidenten der Firma bekleidet, wurde sie doch stets an ihrem großen Vater gemessen. Den halten bis heute tatsächlich nicht wenige für eine Art Propheten, der die toskanische Weinindustrie in den 1970er Jahren mit seinen revolutionären Ideen vor dem Abgrund bewahrt hat. Außerdem war Italiens Weinszene bis vor wenigen Jahren praktisch noch eine reine Männerdomäne – zumindest, wenn es um die ganz großen Namen der Branche ging. „Da wir drei Schwestern sind, hatte mein Vater allerdings nicht wirklich eine Wahl“, erklärt Albiera schmunzelnd, „doch Spaß beiseite – natürlich war es am Anfang nicht leicht. Zumal ich beim Eintritt in die Firma noch sehr jung war und keinen Universitätsabschluss besaß. Mädchen brauchen so etwas nicht, hieß es damals in der Familie und ich musste mich mehr als einmal beweisen, bevor mein Vater mir schließlich die Firmenleitung übertrug.“

Offenbar eine weise Entscheidung, denn längst haben die Antinoris die engen Grenzen der Toskana unternehmerisch gesprengt und besitzen heute unter anderem auch Rebflächen in Apulien (Tormaresca), dem Piemont (Prunotto) oder der Franciacorta (Tenuta Montensia). Daneben gibt es noch das Antinori Family Estate im Kaliforniens Napa Valley und das Weingut Haras de Pirque in Norden des Maipo-Tals in Chiles Zentralregion. Projekte, in die zum Teil auch Albiera involviert war, bevor sie vor gut 8 Jahren schließlich das Steuer übernahm. Jüngster Zugang im globalen Antinori-Portfolio ist Napas Cabernet Legende Stag´s Leap Cellers, die man 2023 für einen unbekannten Kaufpreis erwarb.

Heute ist das Unternehmen mit ca. 3.000 Hektar eigener Rebflächen das größte Privatweingut Italiens – und mit einem Jahresumsatz von weit mehr als 200 Millionen Euro auch eines der profitabelsten. So zählt das Unternehmen mittlerweile rund 120 Etiketten bei einer Jahresproduktion von über 23 Millionen Flaschen.

Und doch schlägt das Herz der Familie noch immer in der Toskana. Genauer gesagt im Dreieck zwischen Palazzo Antinori, der ikonischen Tenuta Tignanello, wo der gleichnamige Supertuscan und sein großer Bruder Solaia geboren wurden und der 2012 eröffneten Kellerei Antinori nel Chianti Classico mit angeschlossenem Besucherzentrum in Bargino an der Verbindungsstraße zwischen Florenz nach Siena – ein in Stahl, Glas, Holz und Beton gegossenes, über 100 Millionen Euro teures Weinmonument, gebaut nicht um Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte zu überdauern. Ganz so wie die 1049 gegründete Vallombrosaner Abtei San Michele Arcangelo, in deren Kellern Antinori den Spitzenchianti Gran Selezione Badia a Passignano ausbaut oder das im 14. Jahrhundert errichtete Castello della Sala bei Orvieto in Umbrien, dem ältesten Anwesen im Besitz der Familie, das Albieras Großvater Niccolò 1940 erwarb und wo unter anderem der Cervaro della Sala produziert wird, unbestritten einer der besten Weißweine Italiens, gekeltert auf Basis von Chardonnay und der autochthonen umbrischen Rebsorte Grechetto.

Ein architektonisches Highlight ist aber auch der organische Neubau des Weinguts Le Mortelle in der südlichen Maremma mit seinem Flagship-Wein Ampio und dessen kleinen Bruder Poggio alle Nana, jeweils eine Cuvée aus Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc und der uralten, ursprünglich Bordelaiser Rebsorte Carménère, die heute vor allem in Chile angebaut wird und bei den Antinoris eine kleine Renaissance erlebt. Le Mortelle wie Antinori nel Chianti Classico gehören nicht von ungefähr auch beide zum prestigeträchtigen Netzwerk Toscana Wine Architecture, in dem 14 der beeindruckendsten Beispiele zeitgenössischer Weinarchitektur der Region zusammen geschlossen sind. 2022 wurde der neue Keller in Bargino bei den World´s Best Vineyards Awards von über 500 Experten aus der Wein- und Tourismusbranche außerdem zum besten Weingut der Welt gekürt – ein weiterer Meilenstein der Familiengeschichte. Und tatsächlich gilt das harmonisch mit der Hügellandschaft des Chianti Classico verschmolzene Ensemble, dessen rostrote Fassade in verwitterungsbeständigem Cortenstahl die warme Farbe der toskanischen Terra Rossa aufgreift, heute als eine von Italiens Top-Destinationen für Önotourismus. Spitzenrestaurant und sehenswertes Museum, das Besucher durch 600 Jahre Kunst- und Familiengeschichte führt, inklusive.

Das seit der Jahrtausendwende vielleicht bedeutendste Jahr für die Antinoris aber bleibt wahrscheinlich 2012, als der Familienrat parallel zur Einweihung der neuen Kellerei beschloss, das Unternehmen samt den zugehörigen Ländereien in eine Familientreuhand-Stiftung einzubringen. Ein Verkauf, die Übernahme oder eine Aufteilung der Firma sind damit auf mindestens 90 Jahre ausgeschlossen, außerdem wurde so sichergestellt, dass fast die gesamten Erträge dauerhaft ins Unternehmen reinvestiert werden. „Wir glauben, dass wir unserer Verantwortung für das uns anvertraute Land und gegenüber unserem Team so am besten gerecht werden können“, erklärt Albiera diesen Schritt. Schließlich gehe es nicht allein darum, Traditionen, die über Jahrhunderte gewachsen sind, zu bewahren. Auch habe das Thema Innovation bei Antinori sei jeher eine wichtige Rolle gespielt. Und die koste nun mal eine Menge Geld – aber nur beides zusammen ermöglicht echten Fortschritt. „Wo Traditionswahrung zum Selbstzweck erstarrt, ist Stillstand die Folge und das ist tödlich für jedes Unternehmen“, sagt Albiera. Zur Zukunftsstrategie gehört für die Antinoris aber auch die Weingüter für die Kunden zu öffnen. Die Familie hat in den letzten Jahren deshalb massiv in die Hospitality-Sparte investiert, für die Albieras Schwester Allegra verantwortlich zeichnet.

Einer der begehrtesten und erfolgreichsten Tropfen aus dem Antinori-Portfolio, der eingangs erwähnte Tignanello, feiert in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag, kam der legendäre Premierenjahrgang 1971 doch 1974 erstmals auf den Markt. Heute eines der Aushängeschilder toskanischer Weinkultur, war der Wein für das Chianti-Establishment eine echte Provokation, brach Albieras Vater Piero damals doch mit sämtlichen Konventionen der nur wenige Jahre zuvor erlassenen neuen DOC-Vorschriften.

So verschnitt er für den Tignanello die toskanische Paraderebsorte Sangiovese nicht nur mit Cabernet Franc und Cabernet Sauvignon, sondern lies den gemeinsam mit dem Önologen Giacomo Tachis entwickelten Tropfen außerdem in französischen Barriques ausbauen. Allerdings hatte schon Albieras Großonkel – der Bordeaux verrückte Mario Inscisa della Rocchetta von der Tenuta San Guido – in den 1940er Jahren auf einem steinigen Hügel in Bolgheri diese klassischen Bordelaiser Rebsorten pflanzen lassen. Schlicht weil auf Grund des Krieges der Nachschub seiner Lieblingsweine zu versiegen drohte. Auf Drängen Pieros und von Marios Sohn Nicolò wurde dieser „Hauswein“ ab 1971 dann unter dem Kultlabel Sassicaia vermarktet. Während der Sangiovese im Tignanello-Blend heute immerhin rund 80 Prozent der Cuvée ausmacht, setzt man bei Sassicaia allerdings seit jeher ausschließlich auf internationale Rebsorten, weshalb beide Weine im Glas einen deutlich unterscheidbaren Charakter zeigen.

Seit Jahrzehnten tobt unter Weinfreunden eine erbitterte Diskussion darüber, welche dieser beiden Ikonen sich denn nun mit dem Prädikat des ersten Supertuscans der Weingeschichte schmücken darf. Und um die Sache noch ein wenig komplizierter zu machen, gibt es da auch noch einen gewissen Enzo Morganti, einen heute zu Unrecht fast vergessenen Weinrebellen, der auf seiner Tenuta San Felice mit dem Vigorello tatsächlich bereits 1968 einen im Barrique ausgebauten Toskaner präsentiert hatte; die Ehre, Supertuscans zur globalen „Marke“ gemacht und ihnen damit zum Durchbruch verholfen zu haben, gebührt aber zweifellos Piero Antinori und seinem Tignanello. Nicht zuletzt färbte der Erfolg der Supertuscans aber auch auf „normalen“ Chianti Classico ab, der seitdem einen dramatischen Qualitätsaufschwung erlebt hat. Und auch für die Familie Antinori sind die Chianti Classico Weine bis heute so etwas wie die Seele des Unternehmens.