Invest – materialist https://materialist.media A forward thinking source for Private Wealth and Personal Lifestyle. Mon, 16 Oct 2023 11:19:46 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.5 https://materialist.media/wp-content/uploads/2016/08/cropped-logoicon-Website-32x32.jpg Invest – materialist https://materialist.media 32 32 94844354 „Mischung aus Machtanmaßung und Korruption“ https://materialist.media/mischung-aus-machtanmassung-und-korruption/ Mon, 16 Oct 2023 11:19:42 +0000 https://materialist.media/?p=5193 Ein Verbot jagt das nächste. Tempolimit, 15 Minutes Citys, Autofahren, Fleischverbot, Zigaretten-Bashing, Zuckerverbot, Flugverbot, anonymer Gold-Kaufverbot und Energie-Rationierung. Welches Verbot nervt Sie am meisten?

Am meisten nervt das Denkverbot, die Schere im Kopf, die man uns zu installieren versucht. Wir haben zu keiner einzigen relevanten politischen Frage mehr einen offenen Diskurs, wir haben nur noch Narrative. Egal, ob das die Klimafrage, die Energiepolitik, speziell die Frage der Atomenergie, die Corona-Maßnahmen, die Immigration oder den Krieg in der Ukraine betrifft: Wer von der Regierungslinie abweicht, wird mit totalitären Methoden angegangen und es wird der Versuch unternommen, ihn mundtot zu machen.

Auf welche Weise?

Meinungsfreiheit wird zwar nicht verboten, aber erstickt. Das ist die Voraussetzung für die Verbotskultur in unserem Land. Denn wer nicht mehr debattieren darf, der kann sich auch gegen immer neue Verbote und Einschränkungen seiner Freiheit nicht mehr zur Wehr setzen. Das Redeverbot wird dann mittels Vermeidung kognitiver Dissonanz zum Denkverbot. Das Denkverbot macht den Bürger vom freien Menschen zum Untertan.

Sind die coolen Zeiten vorbei?

Wir brauchen eine fundamentale Umkehr des Trends der Denkverbote. Wir brauchen Menschen, die sich nicht fürchten vor der Cancel Culture, und die der Jugend vorleben, was es heißt, gegen den Strom zu schwimmen. Der erste Schritt: der Jugend den Unterschied zwischen Mut und Gratismut zu erklären.

Markus Krall in seinem Arbeitszimmer auf Mallorca (Foto: Insa Gonzalez).

Was heißt Mut für Sie?

Auch gegen die Mehrheit oder Sanktionen den Mund aufzumachen. Gratismut ist es, auf einer Schulschwänzparty mitzulaufen, zu der der Lehrer aufgefordert und eingeladen hat und auf der sich alle gegenseitig ihres Gutmenschentums versichern.

Und wer das nicht gut findet…

…muss unermüdliche Überzeugungsarbeit leisten für das Prinzip der Aufklärung, welches da lautet: „Sapere Aude“, habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Weg mit der Schere im Kopf, weg mit den Denkblockaden und Denkverboten, der Rest passiert dann von ganz allein.

Wie konnte es passieren, dass mit der EU eine Organisation, die den europäischen Wohlstand aufgebaut hat, gefühlt den ganzen Kontinent nur noch mit Vorschriften und Regularien lähmt?

Die EU hat den europäischen Wohlstand nicht aufgebaut, das haben ihre Bürger getan. Und waren dabei um so erfolgreicher, je freier ihr Wirtschaftssystem war. Die EU hatte durch Abbau von Zöllen, nicht-tarifären Handelshemmnissen im Binnenmarkt und Durchsetzung des Binnenmarktes positive Wachstumsimpulse gesetzt, weil das die Marktwirtschaft gestärkt hat. Ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde die EU jedoch zunehmend von politischen Kräften gekapert, die nichts dergleichen im Sinn hatten und die es verstanden, die institutionellen demokratischen Defizite der EU für die Errichtung einer unkontrollierten Bürokratie und übergriffigen Ausdehnung der Zuständigkeiten zu missbrauchen. Eine neue Klasse machtbewusster Bürokraten mit neofeudalistischen Ansichten ist da herangewachsen. Ihr Bild von Staat und Gesellschaft ist paternalistisch, sie sehen sich selbst als verteilende und dirigierende Kaste, eine Art neuer Adel.

Jetzt scheint dieses System an seine Grenzen zu kommen.

Ja, weil es sich überdehnt hat und zugleich das Gift der Korruption eingesickert ist. Die Mischung aus Machtanmaßung und Korruption zwingt aber die Bürokratie zu immer neuen Vorschriften und auch Freiheitseinschränkungen inklusive der Diskursverweigerung und Diskursunterdrückung. Das System muss, um zu überleben, immer autoritärer werden.

Ich wohne in München und fahre einen Euro4 Diesel. Sehen Sie noch irgendeine Zukunft für mein Auto?

Ja, die sehe ich. Die von mir gegründete Atlas-Initiative finanziert die Prozesse von Münchner Bürgerinitiativen gegen das Diesel-Fahrverbot der Stadtverwaltung. Einen ersten Teilerfolg für Euro5-Diesel haben wir bereits erzielt, wir machen damit weiter. Am Ende ist die gewaltsame Umstellung des Individualverkehrs mit den Gesetzen der Ökonomie und auch der Physik nicht vereinbar, einfach weil es nicht genug Rohstoffe dafür gibt. Diese Politik wird daher scheitern.

Sie halten den Euro für eine Fehlkonstruktion. Warum das? Was wäre die Alternative?

Zunächst leidet der Euro unter dem Problem aller Währungen, bei denen die Zentralbank Geld aus dem Nichts schaffen kann, weil das Geld nicht an das Gold gebunden und so die Geldmenge nicht durch die Menge verfügbaren Goldes begrenzt wird. Das führt zu einer kontinuierlichen Ausdehnung der Geldmenge, um irgendwelche politischen Projekte und Defizite des Staatshaushaltes zu finanzieren, was am Ende in die Entwertung der Währung durch Inflation führt.

Und die Konstruktionsfehler?

Euroland ist zum einen kein optimaler Währungsraum und zum anderen ist sein Regelwerk nicht geeignet, die resultierenden Ungleichgewichte durch disziplinierende Anreize zu korrigieren, weil eine Orientierung der Geldpolitik an Durchschnittswerten bei divergierender wirtschaftlicher Entwicklung der Mitgliedsländer für alle Beteiligten falsch ist.

Was bedeutet das?

Ein optimaler Währungsraum zeichnet sich durch einen gewissen Grad an wirtschaftlicher Homogenität und vor allem Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital aus. Diese Faktormobilität ist zum Beispiel in den USA gegeben, der Dollarraum ist in diesem Sinne optimal. Geht Kalifornien in die Rezession und Texas in den Boom – wie das im Moment aufgrund der falschen Wirtschaftspolitik Kaliforniens und der besseren in Texas der Fall ist – treten Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften ein. Das wird dort erleichtert durch gemeinsame Sprache und eine Kultur der Mobilität. Das ist in „Euroland“ nicht der Fall. Das verschärft die Unterschiede in der Entwicklung der Länder, was wiederum dazu führt, dass eine einheitliche Geldpolitik als Prokrustesbett wirkt: Für den einen ist sie zu locker, für den anderen zu strikt, für keinen passend.

Der vielbeschäftigte Finanzexperte genießt die Musestunden am Mittelmeer (Foto: Insa Gonzalez).

Mit welchen Resultaten?

Diese Mechanismen erzeugen künstlich Krisen, wie in Griechenland, Zypern, Portugal und auch Italien. Das Ergebnis ist die Rettung als Betriebszustand der Währung. EuRO steht insofern für Europäische Rettungs-Organisation. Es folgt daraus die Notwendigkeit, die Geldpolitik immer an den schwächsten Mitgliedern des Verbundes zu orientieren. Das ist die tiefere Ursache für die Null- und Negativzinspolitik der letzten 15 Jahre vor der Inflationskrise, in die wir jetzt eingetreten sind. Sie zerstört den Produktivitätsfortschritt und damit die Wachstumsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften und setzt Anreize zu einer immer weiteren Steigerung der billigen Verschuldung in den südlichen Ländern, so dass die Schuldenfalle immer tiefer wird.

Wo ist der Unterschied zwischen der EU 1950 und 2023?

Die Vorläufer der EU in den 50er Jahren waren kleiner, fokussierten sich auf Freihandel und Zollunion und waren zugleich ein Vehikel, um Westdeutschland in das westliche Bündnissystem stärker einzubinden. Sie hatten keine transnationale Bürokratie, weil Frankreich und andere Mitglieder nicht bereit waren, ihre Souveränität einzuschränken, aufgrund des hohen Gewichts Deutschlands in dem damals neuen Club. 

Coronakrise, Migrationskrise, Wirtschaftskrise, Bankenkrise, Klimakrise, Gender-Krise, Ukraine-Krise. Hört es irgendwann auf, oder stolpern wir nur noch von einer Krise in die andere?

Wir stolpern von Krise zu Krise, weil diese Krisen politisch hausgemacht sind, und zwar jede einzelne. Die Ursache dieser Krisen ist die Kombination der Inkompetenz unserer durch Negativauswahl gebildeten politischen „Elite“ und einer Krankheit der Köpfe in der westlichen Welt, die gekennzeichnet ist von einer Kombination aus Wohlstandsverwahrlosung, Denkfaulheit, Verweigerung der Logik, Ablehnung des Leistungsgedankens und Vergötzung der kurzfristigen Lustbefriedigung. All das wiederum ist Ergebnis einer Koinzidenz von leistungslosem Wohlstand und einer über Jahrzehnte aufgestauten Bildungskatastrophe. Politische Inkompetenz und Realitätsverweigerung bei einem Großteil der Wähler und Bürger verstärken sich in ihrer Wirkung gegenseitig. 

Betrachtet man die Krisen einzeln, so erkennt man auch, dass sie menschengemacht sind, nicht das Ergebnis eines ungnädigen Schicksals. Die Coronakrise ist das Ergebnis einer Selbstüberschätzung der Politik und hat ihre autoritären Neigungen offenbart. Die Migrationskrise ist das Ergebnis der Fehlentscheidung von Angela Merkel, die Grenzen zu öffnen und ihrer Uneinsichtigkeit, diesen Fehler zu korrigieren. Die Wirtschaftskrise ist das Ergebnis von Überregulierung, staatlicher Ausgabenwut, Überbesteuerung, Bürokratie, Gängelung und falscher Geldpolitik. Die Bankenkrise ist Auswuchs der Hybris, dass Staat und Zentralbanken das Finanzsystem steuern könnten, dabei setzen sie nur Fehlanreize zur Übernahme untragbarer Risiken, indem die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden. Das ist keine Marktwirtschaft. Die Klimakrise ist eine scheinwissenschaftliche Fata-Morgana, die mit gewaltigen Geldmitteln für Propaganda und Lobbyarbeit Geld aus den Taschen der Bürger zieht und an bestimmte Interessengruppen und Industrien umverteilt. Die Genderkrise kann man nur noch als Gehirngrippe einstufen und die Ukrainekrise ist das unvermeidliche Ergebnis einer Außenpolitik, die zu keinem Zeitpunkt dafür gedacht war, auf Basis von Gleichberechtigung und Partnerschaft eine Europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen. Kurz: Politikversagen, wohin man auch schaut.

Trotz aller Sorgen um die deutsche Wirtschaft: Markus Krall liebt die gemeinsame Zeit mit seinem Hund (Foto: Insa Gonzalez).

Deutschland hat einen massiven Mangel an Fachkräften, heißt es. Gibt es überhaupt noch genügend Arbeitsplätze in der Wirtschaft? 

Fachkräftemangel ist eigentlich das Gegenteil von Arbeitskräftemangel. Offenbar haben wir mehr Stellen zu besetzen als wir fähige Leute haben. Das ist in erster Linie das Ergebnis falscher Bildungspolitik und kann durch Immigration nicht korrigiert werden aus ganz einfachen Gründen: Qualifizierte Fachkräfte gehen dahin, wo sie sich frei und ungehindert entfalten können. Das ist nach Lage der Dinge nicht das semisozialistische Europa und schon gar nicht Deutschland. Deutschland zieht mit seiner Politik keine Fachkräfte an, sondern das genau Gegenteil. Das ist nicht die Schuld dieser Leute, sondern unsere.

Außerdem ist es moralisch höchst fragwürdig, Fachkräfte aus Schwellen- und Entwicklungsländern abzuwerben, die dort noch dringender gebraucht werden als hier. Das Ergebnis ist ein Brain-drain, ein intellektuelles Ausbluten dieser Länder und ein Abschneiden ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Das ist im Grunde genommen ein neokoloniales Konzept der Ausbeutung dieser Länder. Man raubt ihnen jetzt nicht mehr die Rohstoffe, das Öl, das Gold, das Holz, die Erze, man nimmt ihnen stattdessen die wichtigste Ressource zum Aufbau von Wohlstand: Das Humankapital. Das werden sich diese Länder auf Dauer nicht gefallen lassen.

Wie schaffen wir es, dass sich Arbeit in Deutschland wieder lohnt? Und was müsste passieren, dass Vorstellung von Familie, einem eigenen Haus und Wohlstand für die Mitte der Bevölkerung wieder erreichbar erscheint?

Das wird nur passieren, wenn wir eine radikale Reform des Gemeinwesens an Haupt und Gliedern durchführen. Wir müssen dafür den Staat radikal zurückstutzen. Ich behaupte: 10 von 14 Ministerien und 99 von 99 Bundesbehörden sind überflüssig und niemand wird es bemerken, wenn wir die abschaffen. Das gleiche gilt für die Regierungen in den Bundesländern. Wir brauchen eine radikale Entschlackung der Bürokratie und eine Streichung von 99 Prozent der Gesetze und Regularien, die seit 1970 erlassen wurden. Wir haben nämlich auch 1970 nicht in der Anarchie gelebt. Wir brauchen stabiles Geld, idealerweise auf Goldbasis, bei dem nicht mehr Zentralbankbürokraten, sondern der Markt den Zins finden und die Kapitalströme steuern. Wir müssen alle Kopfkrankheiten von Gendern bis Klima über Bord werfen und wir müssen radikal privatisieren und mit dem Erlös die Sozialversicherung erst sanieren und dann ebenfalls privatisieren, wenn sie überleben soll.

Wie denken Sie über Reichen-, Vermögen,- und Erbschaftsteuer?

Steuern auf Einkommen und Vermögen lehne ich grundsätzlich ab. Sie sind aus dem Neid und der fiskalischen Gier geboren und sie sind leistungsfeindlich. Neid ist in meinen Augen eine Todsünde und wenn man ihm nachgibt, wird er erst haltmachen, wenn nichts mehr zum Umverteilen da ist.

Wer nach einer „gerechteren“ Verteilung strebt, sollte vor allem am Geldsystem ansetzen. Die Abschaffung des Goldstandards 1971 und die Einführung des ungedeckten Papiergeldes hat es ermöglicht, immer gewaltigere Vermögen an die Finanzoligarchie zu verschieben und so ungeheure Mittel von unten nach ganz oben, an die reichsten 0,01 Prozent der Bevölkerung zu verteilen. Wenn man das abstellt, so wird es sehr schnell zu einer marktgerechten und viel gleicheren Verteilung kommen, ohne dass dabei Raub im Spiel sein muss.

Wenn es nach mir ginge, dürfte der Staat außerdem noch nicht einmal wissen, was ich verdiene oder was mir gehört. Das ist meine Privatsphäre. Wenn wir den Staat so schrumpfen, wie notwendig für eine Wiedergeburt Europas, dann braucht er das Geld auch gar nicht mehr. Es genügt dann eine Konsumsteuer von etwa 10 Prozent des Bruttosozialprodukts für seine Aufgaben.

20 Jahre wurde dauerhaft von der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands geschwärmt. Wo genau ist sie hin und wie konnte das Gefühl wirtschaftlicher Stärke so schnell verpuffen?

Das ist schon seit 15 Jahren eine Illusion, die nur von der politischen Propaganda aufrechterhalten wird und vom Leben aus der Substanz. Die wirtschaftliche Stärke gründete sich auf der kurzen Phase echter Marktwirtschaft in den 50er und 60er Jahren. Dann kam eine Phase zunehmender sozialistischer Experimente, aber mit einer noch starken Restmarktwirtschaft. Seit der Regierungsübernahme von  Merkel ist das System zur quasisozialistischen Planwirtschaft mit einem zu kleinen marktwirtschaftlichen Hilfsmotor degeneriert. Das Verpuffen fand über Jahrzehnte statt und libertäre Ökonomen wie von Hayek, Baader und anderen haben davor gewarnt. Dass es scheinbar jetzt so schnell geht, ist der Tatsache geschuldet, dass jetzt die Rechnung präsentiert wird und wir zugleich die wirtschaftlich inkompetenteste Regierung aller Zeiten haben.

Markus Krall hält digitale Zentralbankwährungen für die größte Bedrohung unserer Freiheit überhaupt (Foto: Insa Gonzalez).

Die Politik hat die Zeitenwende für die Bundeswehr eingeläutet. Über Jahrzehnte hinweg wäre ein militärisch starkes Deutschland weder den eigenen intellektuellen Eliten, noch dem europäischen Ausland vermittelbar gewesen. Sehen Sie Deutschland ernsthaft militärisch erstarken? Oder ist dies das nächste phänomenale Milliardengrab der Politik?

Es ist eindeutig letzteres. Zunächst ist es bemerkenswert, dass man 100 Milliarden Schulden aufnimmt für militärische Anschaffungen und dann die Schulden Sondervermögen nennt. Das gibt es wohl nur in Deutschland. Seitdem haben sich die Fähigkeiten der Bundeswehr nur noch verschlechtert. Material und Munition wird an die Ukraine verschenkt (Die USA verkaufen die Waffen an die Ukraine, verschenkt wird da nichts) und in einem Konflikt verheizt, dessen Ausgang bestenfalls ungewiss ist, dessen Mechanik aber nicht zu unseren Gunsten zu laufen scheint.  Dazu kommt: Ein Konzept für eine nachhaltige Verteidigungsfähigkeit ist nirgendwo in Sicht. Außer Treueschwüren zu den USA habe ich da bisher nichts gesehen.

Wie viel sozialen und wirtschaftlichen Abschwung brauchen wir, damit Parteien wieder zum Vorteil des deutschen Volkes agieren und nicht nur das eigene Klientel bedienen?

Ich fürchte wir brauchen noch sehr viel mehr sozialen und wirtschaftlichen Abschwung, um diesem Wunsch gerecht werden zu können. Ich gehe so weit, zu sagen, dass die Parteien das Problem sind, denn sie sind verantwortlich für die Negativauswahl des politischen Personals und zugleich haben sie sich den Staat zur Beute gemacht. Nie hatten wir so viel Korruption wie heute. Auch hier liegt die Ursache in den Köpfen, und zwar der Politiker. Ich sage: Wer sich in dieser Zeit der zunehmenden Not der Menschen für 400.000 Euro einen Photographen, für 130.000 Euro eine Stilberatung oder einen Visagisten auf Kosten der Steuerzahler leistet, hat eine korrupte Grundhaltung, eine innere Gier, ein schweres charakterliches Defizit. Das ist die Haltung, aus der sich Korruption nährt. Es ist vermessen zu hoffen, dass solche Menschen dem Wohl des Volkes dienen.

Was es daher braucht, ist eine Krise, die so tief ist, dass sich Mehrheiten finden für eine fundamentale Reform, und das beinhaltet ein massives Zurückdrängen der Rolle der Parteien. Das Grundgesetz billigt den Parteien in Artikel 20 eine Rolle zu. Dort steht: „Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit“. Ihnen wird eine dienende, vermittelnde Rolle zuerkannt. Das ist nicht das, was wir haben. Wir können schon froh sein, wenn die Parteien dem Volk noch eine Mitwirkung zubilligen. Wenn wir das nicht ändern, dann dürfen wir uns nicht darüber wundern oder beschweren, wenn die Belange des Volkes an letzter Stelle kommen.

Gute Bildung ist alles, was zählt, heißt es. Wie denken Sie darüber? Unser öffentliches Schulsystem ist marode, eine wirkliche Leistungsauslese politisch nicht gewollt und Wissen mittlerweile im Internet allumfassend abrufbar.

Die Abrufbarkeit des Wissens ist nicht unser Problem. Im Gegenteil, das ist, wenn man sich nicht von den Suchmaschinen manipulieren lässt, ein Fortschritt. Die Voraussetzung für die Nutzung von Wissen ist aber eine starke Basisbildung, in Lesen, Schreiben, Textverständnis, Analytik, Rechnen, Sprachen, Naturwissenschaften und Allgemeinbildung. Ohne das ist die Informationsflut unserer Tage durch das Internet nur nutzloses Rauschen, die Menschen nicht in der Lage, Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden und Informationen in bessere Entscheidungen und produktive Fähigkeiten umzusetzen.

Die Bildungskatastrophe ist nach meiner Überzeugung politisch gewollt. Ihre ideologischen Grundlagen sind der Wille zur Gleichmacherei (nicht Chancengleichheit, sondern Gleichheit im Ergebnis war das Ziel) und die bessere politische Manipulierbarkeit durch die Herrschenden. In dieser Rolle der weisen Elite sehen sich vor allem die sozialistischen Kader. Es wird Jahrzehnte dauern, den Schaden zu korrigieren, den diese Leute angerichtet haben. Allerdings ist auch hierfür die Krise hilfreich. Der Kollaps der Sozialsysteme wird jeden Mann und jede Frau im Land zwingen, irrelevantes Scheinwissen über Bord zu werfen und sich auf das relevante und wichtige zu konzentrieren. Not fokussiert das Gehirn.

Wie viel wirtschaftlicher Druck steckt hinter der Umweltbewegung? 

Die Umweltbewegung ist scharf zu unterscheiden von der Klimabewegung. Die Klimabewegung ist eine Koalition korrupter Industrieinteressen und neosozialistischer autoritärer politischer Interessen. Diese Koalition von Konzernen und Staat hat einen Namen, nämlich Faschismus. Die Methoden ähneln sich daher nicht zufällig. Der wirtschaftliche Druck ist leicht zu erkennen, wenn man dem investigativen Prinzip „Follow the Money“ folgt. Wer finanziert die Aktivisten? Wer profitiert von den Subventionen? Wem nutzen die Verbote? Dann wird schnell klar: Die gesamte Klimabewegung ist von wirtschaftlichen Interessen dominiert und kontrolliert.

Die BRICS Staaten planen eine goldgedeckte BRICS-Währung. Ist die globale Pole Position des US-Dollars in Gefahr?

Die BRICS-Staaten, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, ist ein ursprünglich mal von Goldman-Sachs so getaufter Club von Ländern, dessen politische Dynamik sich in den letzten Jahren verselbständigt hat. Diese 5 erzielen einen Handelsbilanzüberschuss von zuletzt fast einer Billion Dollar pro Jahr (2022) und möchten das Loch im Eimer begreiflicherweise stopfen, das durch die Leitwährungsfunktion des Dollars bei ihnen entsteht: Diese Länder liefern Güter und Rohstoffe, werden in diesem System mit Dollars bezahlt und diese werden anschließend durch das Drucken frischer Dollars inflationär entwertet. Das ist eine Art von Tributsystem, das diese Länder abschaffen und durch eine goldgedeckte Handelswährung ersetzen und künftig mit dieser Währung bezahlt werden wollen, in anderen Worten mit Gold. Die einzig offene Frage ist noch, ob sie das in kleinen oder in großen Schritten einführen werden, Salamitaktik oder „Cold Turkey“?

Ihr Hebel ist der gewaltige Handelsbilanzüberschuss und der Hunger des Westens nach Importen zur realwirtschaftlichen Abfederung der staatlichen Defizitwirtschaft. Letztlich alimentieren diese Länder die Unfähigkeit der westlichen Politiker Fiskaldisziplin zu üben.

Wenn die BRICS, die eine Warteliste von 40 Ländern mit Beitrittsanträgen haben, das durchziehen, dann dürfte das gewaltige Implikationen haben.

Um ein Defizit von einer Billion in Gold zu bezahlen, benötigt man nach aktuellem Kurs ca. 16.000 Tonnen – pro Jahr! Die Reserven des Westens wären in weniger als 2 Jahren aufgezehrt. Alternativ müsste der Westen das Gold auf dem Weltmarkt kaufen, das würde aber zu einer Explosion des Goldpreises um den Faktor 10 führen. Die Importe würden sich gewaltig verteuern und die Inflation in den USA und Europa würde ungeahnte Höhen erklimmen. Es bleibt die dritte Variante, nämlich eine drastische Reduzierung des Leistungsdefizits. Das würde die realwirtschaftlich verfügbare Gütermenge im Westen reduzieren und die Staaten zwingen, ihre Staatsdefizite massiv zu reduzieren, damit die Defizite nicht ebenfalls massiv inflationär wirken. Variante 4: Alles drei im richtigen Gemisch.

So oder so: Das doppelte Defizit der westlichen Länder bei Staatshaushalten und Leistungsbilanz ist nicht länger finanzierbar und die Leitwährungsfunktion des Dollars steht in Frage.

Sprechen wir über digitales Geld,  genannt CBDC: Amazon ist eine von 5 Fintech- und eCommerce-Firmen, die den digitalen Euro-Prototypen für die EZB entwickeln und für den Alltag testen. Laut Amazon soll digitales Geld Zahlungen effizienter machen und Innovationen fördern. Was glauben Sie: Wann kommt der E-Euro? 

Der Fahrplan, den die EZB zur Einführung ihrer digitalen Zentralbankwährung verkündet hat, sieht 2027/28 als Termin vor. Ich habe Zweifel, dass der E-Euro kommt aus einem einfachen Grund: Sein Fahrplan kollidiert mit einer sich gerade entfaltenden Banken- und Finanzkrise, die das Resultat von Inflation, Zinserhöhung und Lieferkettenzerstörung sind. Die EZB verliert dabei die Glaubwürdigkeit, die sie benötigt, um diesen Schritt vollziehen zu können.

Und was bedeutet das digitale Zentralbankgeld, kurz CBDC, für die Menschen?

Ich halte digitale Zentralbankwährungen für die größte Bedrohung unserer Freiheit überhaupt. Sie werden die technische Voraussetzung für die Abschaffung von Bargeld schaffen und es dem Staat in Gestalt der Zentralbank ermöglichen, ein System totaler Bürgertransparenz und Kontrolle einzuführen. Digitale Währung als Monopol bedeutet, dass der Staat weiß, was wir uns als 6-jährige für die ersten 50 Cent Taschengeld gekauft haben. Die erste Tüte Gummibärchen ist genauso registriert, wie die erste Tüte Gummis und der erste Playboy, das erste Auto und die erste online Bestellung für was auch immer. Wir werden jeglicher Privatsphäre beraubt, transparent, erpressbar und auch steuerbar.

Die Verknüpfung dieser Daten mit einem social Scoring System nach chinesischem Muster ist dann eine Frage der Zeit. Der Staat kann dann entscheiden, dass wir unser CO-2 Konto überzogen haben, uns Flug- oder Zugtickets verwehren, oder die nächste Tankfüllung für unseren ach so bösen Verbrenner. Er kann uns hindern Fleisch zu kaufen und uns zwingen, die Tüte mit den knackigen Insekten zu nehmen, er kann uns in unserer Wohnung einsperren und uns jede Bewegungsfreiheit nehmen, wenn es ihm passt. Das ist der Instrumentenkasten der Tyrannei.

Interview: Katja Eckardt

]]>
5193
Komfort und Eleganz https://materialist.media/komfort-und-eleganz-2/ Tue, 07 Jun 2022 18:33:55 +0000 https://materialist.media/?p=3995 Bei Kennern genießen die Luxusuhren von Parmigiani Fleurier einen besonderen Ruf. Durch neue, moderne Modelle sorgt Chef Guido Terreni für ausgezeichnete Performance.

Seit rund einem Jahr ist Guido Terreni der neue Anführer von Parmigiani Fleurier in der Maison Val de Travers. Die, die ihn gut kennen, beschreiben den bärtigen Manager als einen klugen Strategen, fordernd, hart in der Sache, aber gleichzeitig auch mit einem gewinnenden Charme ausgestattet. Er ist aus genau jenem Holz geschnitzt, das im rauen Wind des Wettbewerbs die notwendige Standfestigkeit verleiht. Die bei Luxusuhren recht mimosenhaften Zielgruppen ändern sich und das internationale Geschäft ist ebenso unübersichtlich wie wechselhaft. Eine Marke will sensibel und dennoch nachhaltig auf die Zukunft ausgerichtet sein; trotz der langen Produkt-Lebenszyklen braucht sie zugkräftige Novitäten, die weder die Marke verwässern noch zum Ladenhüter werden dürfen. 

Der Tonda PF Choreograph: 42 mm, 18k Roségold, Automatik-Manufakturkaliber PF070 mit Chronographenfunktion, Datumsanzeige und kleiner Sekunde | Referenz-Nr. PM020129

Da ist einer gefragt, der Ziele setzen, Händler begeistern und den Wettbewerb verblüffen kann. Und der am Ende auch für gute Zahlen sorgt. Halb Teppichhändler, halb Philosoph verfügt Guido Terreni genau über diese Eigenschaften. „Es war ein sehr intensives erstes Jahr“, bilanziert der gebürtige Italiener, „und eines, an das ich mich immer erinnern werde.“ Dies war nicht nur mit den pandemiebedingten Beschränkungen im Austausch mit den Mitarbeitern geschuldet. Sondern es hatte auch mit dem Willen zu tun, nicht einfach nur erprobte Rezepte aus der Schublade zu ziehen, sondern die ihm anvertraute Marke mit ihren Werten und Traditionen behutsam weiterzuentwickeln. Man spürt, dass dieser tatendurstige, gut gekleidete Mann mit diesem Job seine Erfüllung gefunden hat.

Meisterhaft konstruiert: Das Uhrwerk der Tonda PF Choreograph Steel.

Wie erfolgreich das derzeit gelingt, spiegelt sich unter anderem in der Tonda PF GMT Rattrapante wider, die gerade zur Genfer Uhrenmesser Watches and Wonders präsentiert wurde. Bei dieser raffinierten Armbanduhr lässt sich der Ortszeitzeiger durch Betätigen des Drückers in der 8-Uhr-Position mit dem Zeiger für die Heimatzeit synchronisieren. Bei jedem Push bewegt sich der für die Ortszeit vorgesehene obere Zeiger aus rhodiniertem Gold eine Stunde vor und gibt den Blick auf den roségoldenen Zeiger frei, der die Heimatzeit, also die Zeit am Wohnort des Trägers, anzeigt. Dieses neue Modell aus poliertem und satiniertem Edelstahl schmiegt sich seidenweich ans Handgelenk, elegant, dezent in der Optik und trotzdem von einer ausgeprägten Detailverliebtheit. Rückenwind erhält diese Innovation durch die im Herbst 2021 eingeführte Tonda PF, die in nur wenigen Monaten sämtliche Verkaufserwartungen übertreffen konnte. So sei, berichtet Terreni stolz, die gesamte Produktion des Jahres 2022 bereits ausgebucht.

Erfolgsmodell: Die Tonda PF GMT Rattrapante gehört zu den gefragtesten neuen Kreationen der Manufaktur.

„Ich denke, wir leben heute in einer neuen Ära der Uhrmacherkunst“, glaubt Terreni, ein gewiefter Ökonom, der sein professionelles Rüstzeug zunächst in der Lebensmittelindustrie erwarb, bevor er zu Bulgari wechselte und dort als Leiter der Uhrensparte tätig war. Bei Parmigiani ist er in der Haute Horologie angekommen und richtet sich einen kleinen, aber höchst anspruchsvollen Kreis von Connaisseuren. Auffällige Logos, plakativer Zierrat und Materialschlachten sind hier unerwünscht, es zählt der feine, diskrete Luxus, dessen Raffinesse nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar sein muss, sondern in einer Attitüde puristischer Eleganz verankert bleibt. 

Das neue siegelartige Logo auf dem Zifferblatt der Tonda PF Choreograph Steel.

Bei der Entwicklung besonderer Meisterstücke wie etwa der Tonda Résonance mit Minutenrepetition kann er auf eine Handvoll hochkarätiger Spezialisten zählen, die nicht auf den vordergründigen Effekt bedacht sind, sondern gradliniges Design mit raffinierten Besonderheiten zu verschmelzen. 

Bildschöne und wertvolle Uhr: Die Tonda PF Annual Calendar in Rosé Gold.

„Uhrenpuristen streben danach, ihr kreatives Vermögen zu entfalten und suchen nach interessanten Innovationen, so wie wir es bisher vielleicht nur in den 70er-Jahren erlebt haben“, erklärt Terreni. Niederschlag findet dieses etwa in neuen Kreationen wie die wunderschöne Tonda PF Flying Tourbillon mit ihrem Ton in Ton gehaltenen Gehäuse. Verborgen unter dem Edelmetall befindet sich das selbstentwickelte Manufakturkaliber PF517 – ein fliegendes Tourbillon mit Mikrorotor-Automatikaufzug. Der Mechanismus des Fliegenden Tourbillons gibt den Blick auf die Technik des Gangreglers frei und verleiht der Uhr eine bewegte Agilität. Zudem zeigt der Gehäuseboden aus Saphir einige der insgesamt 207 Teile, aus denen sich das mechanische Kaliber mit automatischem Aufzug zusammensetzt.

Tonda PF Flying Tourbillon.

Quer über die Straße gegenüber der historischen Maison mit ihren Granitstufen und Sockeln aus Kalksandstein befindet sich die Manufaktur und das Allerheiligste: die lichtdurchflutete Werkstatt des Unternehmensgründers Michel Parmigiani, inzwischen 72 Jahre alt. Der feinsinnige und bescheiden auftretende Meister zählt zu den genialsten Restaurateuren unserer Zeit. Bei der Berufswahl hatte er sich gegen Architektur entschieden, stattdessen faszinierte den Sohn italienischer Eltern die Feinmechanik der allerfeinst ausdifferenzierte Mikrokosmos der Uhrmacherei. Seine Karriere startete er an der örtlichen Uhrmacherschule in Fleurier, Studien am Technikum der Uhrenmetropole La Chaux-de-Fonds im Hochjura sowie an der Ingenieursschule Le Locle folgten. 

Einer der größten Restaurateure seiner Zeit: Michel Parmigiani im Atelier in Fleurier.

Mit der Zeit spezialisierte sich Michel Parmigiani neben Einzelanfertigungen auf die Wiederherstellung von Zeitmessern und mechanischen Objekten aus der Zeit zwischen der Renaissance und den 1930er-Jahren. Leiter von Uhrenmuseen und Privatsammler erkannten schon bald das herausragende Talent. So sind auch zahlreiche kostbare Stücke, die im Uhrenmuseum von Patek Phillipe zu besichtigen sind, durch Parmigianis Hände gegangen.

Den Durchbruch brachte eine kostbare, von Experten für irreparabel erklärte Sympathique Tischuhr von Abraham-Louis Breguet. Die erweckte Michel Parmigiani zu neuem Leben. Die Sandoz-Familienstiftung, Eigentümerin einer ebenso umfangreichen wie einzigartigen Sammlung historischer Uhren, wurde in den 1980er-Jahren zum wichtigsten Kunden.  

Das ebenso stilvolle wie geschichtsträchtige Stammhaus der Marke in Fleurier.

Mit jeder antiken Uhr, die er analysierte und zu neuem Leben erweckte, wuchs Parmigianis Kompetenz. Oft musste in mühseliger detektivischer Kleinarbeit nachempfunden werden, wie der ursprüngliche Mechanismus gedacht war, fehlende oder defekte Teile wurden speziell hergestellt. „Ein Bauteil neu zu machen wie es vor 120 Jahren gemacht wurde, setzt ganz besondere Fähigkeiten voraus“, sagt Terreni. „Für mich ist die Kunst der Restaurierung so etwas wie der schwarze Gürtel der Uhrmacherei.“

CEO Guido Terreni vor dem Stammhaus.

Michel Parmigiani deutet auf ein Regal. Dort stehen die umfangreichen Dokumentationen der von ihm restaurierten Stücke. Jeder Arbeitsschritt ist in den Büchern erfasst. Am Anfang die Beschreibung des Ausgangszustandes, festgestellte Beschädigungen, Vorher-nachher-Fotos, die in einem kleinen angegliederten Studio entstehen. Die während der Restaurierung gelösten Logikrätsel, Entscheidungen, Maßnahmen und verwendeten Bauteile lassen sich genauso nachvollziehen wie unerwartet große Schwierigkeiten bei der Instandsetzung. Schließlich können in einer Restaurierungsarbeit bis zu 5.000 Arbeitsstunden stecken, entsprechend teuer ist das dann auch. 

Die Kleinteiligkeit der Uhrmacherkunst setzt Geduld und Fingerspitzengefühl voraus.

Michel Parmigiani zeigt einige Stücke, die derzeit noch in seiner Werkstatt aufbewahrt werden, unter anderem eine vergoldete Schatulle. Einmal in Gang gesetzt, entsteigt einer runden, von Perlen eingefassten Öffnung ein winziger Paradiesvogel, der sich dreht und mit den Flügeln schlägt, während er eine Melodie pfeift. Am Ende taucht der Vogel wieder ab, die Klappe schließt sich.

Edles Werkstück: Eine roségoldene Lünette mit Saphirglas.

Michel Parmigiani ist vom Wesen her alles andere als ein hemdsärmeliger Managertyp, eher ein Poet, vom Wesen her leise, hintergründig. Gefördert und unterstützt von Pierre Landolt, dem Präsidenten der Sandoz-Familienstiftung, erfüllte sich im Mai 1996 ein Lebenstraum: Michel Parmigiani durfte seine eigene Marke Parmigiani Fleurier gründen mit der Philosophie, authentische Uhrmacherkunst auf höchstem Niveau zu pflegen. 

Entwurfsarbeit mit Skizzenblock und Bleistift.

Guido Terreni trifft sich regelmäßig mit dem Altmeister, holt in technischen und gestalterischen Fragen immer wieder dessen Meinung ein. „Ich betrachte es als ein ganz besonderes Privileg, wenn der Gründer eines Unternehmens noch so nahbar ist“, sagt er. Für Terreni eine Chance, sich immer wieder zu versichern, wie die Marke ihren Ursprung nahm und welche Kernwerte sie hat, eine wichtige Grundlage für das Narrativ im Verkauf. 

Präzisionsarbeit: Die Zifferblattbearbeitung durch ein Spezialwerkzeug.

Entscheidend für den Erfolg, so sagt er, sei die Bereitschaft, tiefer zu denken, den Dingen auf den Grund zu gehen. „Probleme lösen sich nicht von selbst“, so Terreni. Seine Maxime: beobachten, analysieren, verstehen, entscheiden. „Was macht eine Marke aus, wo hat sie ihre Stärke?“ Bei einer Uhrenmanufaktur wie Parmigiani müsse man immer im Auge behalten, wonach der Kunde sucht. „Wir wollen nicht Hunderttausenden von Menschen gefallen, sondern nur ein paar Tausend. Und diese Zweitausend Personen müssen sich wirklich in dich verlieben.“ 

Während große Hersteller zur Imageunterstützung häufig auf sogenannte Markenbotschafter setzen und etwa Hollywoodstars, Rennfahrer, Musiker oder DJs ins Feld führen, verzichtet Terreni bewusst auf solche Influencer-Maßnahmen. Ein prominenter Markenbotschafter sei immer eine Art von Abkürzung. Die Aura des Stars verliehen dem Objekt Ruhm, weniger die Eigenschaften des Objektes selbst. 

„Ich glaube nicht, dass jemand eine Parmigiani kaufen wird, weil er irgendeinen Star mit einer Uhr von uns sieht. Im Gegenteil: Unser Publikum legt Wert auf Understatement und Diskretion. Eine Parmigiani soll nicht von allen erkannt werden.“ Viel wichtiger für den Erfolg sei die Mund-zu-Mund-Propaganda. Aus seiner Sicht fungiere der Kunde selbst als wichtiger Botschafter der Marke. Er gelte in seinem Freundes- und Bekanntenkreis als jemand, der sich mit Uhren auskennt, und sei deshalb als Vorbild besonders glaubwürdig. 

In der Regel würde man bei Parmigiani Kunden ansprechen, die sich überdurchschnittlich stark für Uhren interessieren, im Laufe ihres Lebens nicht fünf, vielleicht eher fünfzehn Uhren kaufen. Damit verbunden sei ein besonderer, häufig sehr leidenschaftlicher Auswahlprozess. „Eine neue Uhr ist etwas, was man am Handgelenk erfühlen und genießen muss. Deswegen ist für uns der Komfort der Uhr besonders wichtig.“ Entscheidend sei das mühelose Tragegefühl, die Flexibilität des Armbands, die Art und Weise, wie das Gehäuse gebaut ist, um die Bandanstöße zu erhöhen und diese als Träger nicht zu berühren. Terrenis Credo: „Bei einem ultraflexiblen Armband ist nicht der Designer, der über die Form meines Handgelenks entscheidet, sondern umgekehrt.“  

Die Frage, ob er selbst Sammler kostbarer Uhren sei, verneint er.

Als wirklichen Sammler würde er sich nicht bezeichnen. Aktuell hat er eine Tonda PF in Stahl am Handgelenk. „Ich liebe es, Dinge zu tragen, die schön sind und mir Spaß machen.“ Als Chef einer Uhrenfirma sei man immer auch der vorderste Markenbotschafter, sagt Terreni, und von daher könne er niemals öffentlich das Produkt eines Wettbewerbers tragen, solange er in dieser Branche tätig sei. „Also macht es für mich keinen Sinn, etwas zu besitzen, was ich anschließend in der Schublade aufbewahre.“ Dennoch hat er spezielle Lieblinge, und zwar mit zwei Rädern. Motorradfahren ist Terrenis große private Leidenschaft, zuletzt ging es mit seiner BMW durch Patagonien. Die Welt entdecken auch mal abseits der ausgetretenen Pfade macht ihm Spaß und sorgt für neue Inspirationen.  

Eine andere Quelle der Entspannung ist für Guido Terreni die Musik. Früher sammelte er Platten, heute streamt er, was er gern hört. Vor allem ist das die Musik der 60er- und 70er-Jahre, Stücke aus der goldenen Ära der Rockmusik, etwa von der britischen Progressive-Rock-Gruppe King Crimson. Es sei die Mutter gewesen, eine Hobbypianistin, die ihm als Kind die Musik nahegebracht habe, erzählt er.   

„Das beste Konzert, das ich je erlebt habe, war in Mailand mit dem Gitarristen Robert Fripp, Gründer von King Crimson“, sagt er. Ein spleeniger Typ. Niemand habe ihn seinerzeit begleiten wollen. Also sei er allein gegangen. „Fripp leitete damals die League Of Crafty Guitarists. Die hatten 13 oder 14 Akustikgitarren. Das Konzert lief stundenlang und als es endete, wollte einfach niemand gehen. Fripp gab eine Zugabe, noch eine und noch eine, aber auch dann ging niemand. Schließlich war er derjenige, der weit nach Mitternacht nach vorn den Saal verließ und sich auf die Treppe vor dem Theater setzte, um dort als Fototermin für die Presse noch etwas zu spielen. Alle gingen mit ihm raus. Doch als er in den Saal zurückkehrte, folgten ihm alle wieder hinein“, erzählt Terreni lachend. „Das war ein unfassbares Erlebnis!“ 

Es ist diese Gabe der Menschenfängerei, die den Parmigiani-Chef bis heute prägt. Und so wird er auch nicht müde, die besondere Teamleistung im Unternehmen hervorzuheben. Er versteht sich als Bandleader, er gibt den Takt vor, aber die Musik, die machen am Ende alle gemeinsam. Aktuell hat die Kombo gerade ein paar wirklich eindrucksvolle Hits gelandet.

www.parmigiani.com

]]>
3995
„China ist der dominante Wachstumsmotor“ https://materialist.media/china-ist-der-dominante-wachstumsmotor/ Thu, 18 Mar 2021 08:42:48 +0000 http://materialist.media/?p=3481 Asienspezialist Justin Leverenz, Fondsmanager bei Invesco in New York, über die Folgen von Covid-19 für die Weltwirtschaft und neue Chancen an den Kapitalmärkten.

INTERVIEW//THOMAS GARMS

Was sind aus der Anlegerperspektive die wichtigsten Lehren aus dem Umgang mit Covid-19?

Die für Friedenszeiten beispiellosen wirtschaftlichen Verwerfungen durch die Maßnahmen zur Eindämmung dieses Virus werden für viele Branchen schmerzhaft sein und nicht alle Unternehmen werden überleben. Vielen kleineren Unternehmen droht die Insolvenz. Andere werden einschneidende Entscheidungen treffen und ihre Investitionen in Kapazitäten, Produktentwicklung, Marken und Talente kürzen müssen. 

Mit welchen Konsequenzen?

In jedem Fall werden die Starken noch stärker werden, Marktanteile hinzugewinnen und künftig vermutlich noch profitabler sein als ihre schwächeren Konkurrenten. Das alte Motto „Cash is King“ gilt aktuell mehr denn je. Unternehmen, die – dank exzessiver geldpolitischer Interventionen der Zentralbanken – billige Finanzierung genutzt haben, um ihre Bilanzen auszuweiten, könnten unter dem Liquiditätsdruck zusammenbrechen. Dagegen werden sich einigen Unternehmen mit starken Bilanzen attraktive Möglichkeiten für Zukäufe zu günstigen Preisen bieten.

Welche Länder sind für Sie aktuell die größten Sorgenkinder und welche werden zu den Gewinnern gehören?

Wir glauben, dass China der dominante Wachstumsmotor ist – nicht nur in den Schwellenmärkten, sondern weltweit. Außerdem sehen wir in Indien zunehmend interessante Anlagemöglichkeiten – das könnte die nächste große Anlagestory in den Schwellenmärkten sein. Zu den Ländern, die strukturell unter Druck stehen oder nur ein schwaches Wirtschaftswachstum verzeichnen dürften, zählen wir Südafrika, Brasilien und die Türkei. Der Dekarbonisierungstrend wird Auswirkungen auf Russland, die Golfstaaten, Nigeria, Kolumbien und Mexiko haben. 

Die Lockdowns bedeuten für einen Großteil der Welt mehr Schulden und werden viele Industrien dauerhaft schädigen. Zu welchen Verschiebungen in der Weltwirtschaft und an den Kapitalmärkten wird das führen?

Anfang 2020 sah alles so gut aus. Europa schien seine größten Herausforderungen überwunden zu haben, in den USA herrschte Vollbeschäftigung und Asien befand sich ungeachtet der Spannungen zwischen den USA und China auf Kurs. Aber dann kam Covid-19. Was folgte, war eine massive fiskalische Expansion mit entsprechenden Risiken für die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen. Interessanterweise sind es vor allem Schwellenländer, die das Virus erfolgreich eingedämmt und die wirtschaftlichen Folgen am besten bewältigt haben. 

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Durch seine Resilienz und Wachstumsstärke ist China für viele Aktienmanager, die nach „sicheren“ Anlagen suchen, interessant geworden – aber auch für diejenigen, die einfach nur Sorge haben, etwas zu verpassen. Wir beobachten ein stark wachsendes Anlegerinteresse an China, vor allem bei Investoren, die bislang wenig Erfahrung mit China-Anlagen haben. Dadurch ist es an den Märkten stellenweise zu Übertreibungen gekommen. Außerdem wird der klassische Mean-Reversion-Ansatz bei Value-Anlagen künftig wahrscheinlich nicht mehr funktionieren, da viele traditionelle Branchen vor erheblichen strukturellen Herausforderungen stehen, zum Beispiel der Bankensektor durch Fintech, der traditionelle Einzelhandel durch den Onlinehandel und der Energiesektor durch saubere Energien.

Der Asien-Experte Justin Leverenz von Invesco sieht China auf einem starken Wachstumskurs.

Manche hoffen, dass die Welt in der Folge von Covid-19 ökologisch nachhaltiger und sicherer werden kann. Wie lautet Ihre Prognose?  

Covid-19 war ein unvorhersehbares Ereignis mit enormen Auswirkungen – ein sogenannter „schwarzer Schwan“. Trends, die bereits im Gange waren, sind – insbesondere in geschwächten Branchen – verstärkt worden und haben die Dynamik in Bereichen wie E-Commerce, Fintech, Lebensmittellieferung, Fahrdiensten, Gaming, Cloud und anderen ähnlichen digitalen Geschäftsmodellen beschleunigt. Viele dieser Umbrüche könnten dazu führen, dass die Welt ökologisch nachhaltiger und sicherer wird. 

Einige Schwellenländer scheinen sich mit guten Fundamentaldaten rasch von der Krise zu erholen. Wie stark werden die asiatisch-pazifischen Staaten vom Wiederanziehen der Konjunktur profitieren? 

China befindet sich am Beginn eines enormen strukturellen Bullenmarkts, angetrieben durch die Stärke des Renminbi, eine solide Fiskal- und Geldpolitik sowie strukturelle Reformen der Wirtschaft und Kapitalmärkte. Chinas enorme inländische Ersparnisse dürften künftig zunehmend in den Aktienmarkt fließen. Dadurch sollte auch die bis dato ungewöhnliche Beziehung zwischen Chinas beträchtlichem wirtschaftlichem Fortschritt und dem volatilen, von den realwirtschaftlichen Vorgängen abgekoppelten chinesischen Aktienmarkt durchbrochen werden.

Experten reden von einem zweiten Aufstieg Asiens – Sie auch?

Wir rechnen 2021 neben einer breiten wirtschaftlichen Erholung in Asien mit einer Rückbesinnung auf stärker nuancierte Investmentansätze. Mit solchen lassen sich unserer Ansicht nach Unternehmen und Länder identifizieren, die gut aufgestellt sind, um sich rasch wieder vom pandemiebedingten Wachstumsschock zu erholen, und Branchen, in denen eine Konsolidierung zu besseren Preisstrukturen, Margen und Renditen führen kann. Sehr interessante Anlagemöglichkeiten sehen wir in Branchen, die von der Pandemie am stärksten getroffen wurden, da die wirtschaftliche Erholung hier mit einer Branchenkonsolidierung zusammenfällt. 

Ist China auf dem Weg, in Wirtschaft und Politik die neue Führungsmacht der Welt zu werden? 

Wir sind davon überzeugt, dass China schon jetzt zu den neuen wirtschaftlichen Führungsmächten der Welt gehört. China hat einen Anteil von 16 % an der weltweiten Marktkapitalisierung und dem globalen BIP. Chinas Gewicht im MSCI EM Index beträgt über 40 %. China wird in den nächsten zwei bis drei Jahren voraussichtlich für den Großteil des weltweiten Wachstums verantwortlich sein. Schon in ein paar Jahren könnte China die USA beim nominalen BIP eingeholt haben.

China möchte bis 2060 CO2-neutral werden. Wird sich das Reich der Mitte tatsächlich vom Klimasünder zum Umweltschützer entwickeln?

Die Länder, die heute zur entwickelten Welt zählen, wurden in der Phase ihrer Industrialisierung weder für die von ihnen versursachte Umweltverschmutzung noch für ihre Kohlenstoffemissionen zur Verantwortung gezogen. Ob China wirklich zum Umweltschützer wird und seine Ziele für 2060 erreicht, lässt sich nicht voraussagen. Wir sehen aber viel Potenzial für Investoren in zahlreichen geschwächten Industriesektoren.

Invesco-Fondsmanager Justin Leverenz hat mehrere Jahre in Asien gelebt und gearbeitet.

Sprechen wir von der neuen Seidenstraße. Die sogenannte Belt and Road Initiative der Chinesen gilt mit dem Ausbau von Straßen und Schienen zwischen dem Fernen Osten und Europa als das größte Infrastrukturprojekt der Welt. Inwieweit wird von dieser globalen Verästelung auch Afrika profitieren?  

Die Belt and Road Initiative zielt auf eine bessere Vernetzung und Zusammenarbeit auf transkontinentaler Ebene ab und umfasst heute drei Kontinente und 60 % der Weltbevölkerung.

Chinas Regierung hat die Wiederbelebung der Handelsrouten entlang der antiken Seidenstraße, die China mit Ostafrika verbinden, als Symbol für Chinas Bekenntnis zu Afrika bezeichnet. Afrika wird von One Belt One Road profitieren, weil die Entwicklung des Kontinents vor allem durch die defizitäre Infrastruktur vor Ort gehemmt wird. Befürworter der Initiative verweisen auch auf das Potenzial für positive Nebeneffekte der Infrastrukturprojekte wie höhere private chinesische Investitionen in den Tourismus, die Immobilienwirtschaft und den Agrarsektor. One Belt One Road wird auch zunehmend als Katalysator für Afrikas regionale wirtschaftliche Integration und Wettbewerbsfähigkeit betrachtet.

Welche afrikanischen Länder zählen zu Chinas wichtigsten Partnern?

Neben Äthiopien auch Kenia, mit dem Hafen von Mombasa als zentralem Baustein der Initiative auf dem afrikanischen Kontinent. Kenia und China haben in den vergangenen Jahren mehrere Vereinbarungen zu einer Vielzahl von Sektoren abgeschlossen, zum Beispiel 2014 zur Stärkung des chinesischen Tourismus in Kenia und 2018 zur Steigerung der kenianischen Agrarexporte nach China und zur Stärkung der Innovation.

Wie lauten aktuell Ihre heimlichen Helden auf der Weltkarte?

So etwas wie heimliche Helden haben wir nicht. Wir sind aber überzeugt, dass China die wichtigste Anlagestory in den Emerging Markets und der globale Wachstumstreiber sein wird. Wir sehen Russland weiterhin als ein Land, das trotz des plötzlichen Einbruchs der Rohöl- und Erdgaspreise Anfang 2020 für künftige Herausforderungen gerüstet ist und wahrscheinlich einen moderaten Leistungsbilanzüberschuss aufweisen wird. Das russische BIP wird in diesem Jahr zwar so stark schrumpfen wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr. Nach mehrjährigen Maßnahmen zur Stärkung seiner Wirtschaft sollte das Land dies aber überstehen können. Externe Faktoren wie geopolitische Spannungen und daraus resultierende Sanktionen haben die russische Wirtschaft in der Vergangenheit regelmäßig belastet. Diese wiederholten Schocks haben kontinuierliche Anpassungen am Wirtschaftssystem erzwungen und die Regierung zu einer Überkompensation veranlasst, indem sie zulässt, dass die Währung und der Markt in Echtzeit auf Krisen reagieren. Dies hat dazu beigetragen, dass das Land besser gegen weiterreichende wirtschaftliche Schocks gewappnet ist als viele andere Schwellenländer.

Dezentrales Arbeiten ist zur Norm geworden. Wie können Anleger davon profitieren?

Mit dem dezentralen Arbeiten verbundene Themen wie Konnektivität, Effektivität und Effizienz hängen von vielen Variablen ab. Wie sich dies in den verschiedenen Branchen langfristig auswirken wird, ist aber noch offen. Klar gibt es Unternehmen, die vom generellen Trend zur Umstellung auf integrierte Online-Plattformen und von weiteren Digitalisierungsinitiativen profitieren können. Ein solches Unternehmen ist Tencent. Tencent hat in China quasi in allen Bereichen seine Finger im Spiel, egal ob bei sozialen Netzwerken, Nachrichtendiensten, Online-Spielen oder Cloud- und Content-Plattformen. Mit Diensten wie WeChat, WeChat Work oder Tencent Meeting und Zahlungs-, Werbe- und Cloudlösungen ist das Unternehmen hervorragend aufgestellt, um von bestehenden Trends zu profitieren, die durch die Pandemie zusätzlich beschleunigt werden.

Wie beurteilen Sie die aktuellen Entwicklungsperspektiven der Türkei?

Unter den großen Schwellenländern sehen wir in der Türkei besonders ausgeprägte strukturelle Risiken. Problematisch sind vor allem die enorme Auslandsverschuldung der Türkei, bedeutende Währungsinkongruenzen (Währungsunterschiede zwischen Erlösen und Verbindlichkeiten) im Unternehmens- und Bankensektor und die unrealistische Wachstumssucht der Politik, die allein mit inländischen Ersparnissen nicht zu finanzieren ist. Nachdem die türkische Wirtschaft 2020 so stark geschrumpft ist wie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr, sorgen die schwache Währung, Inflationsdruck und eine fragile außenwirtschaftliche Position dafür, dass die Abwärtsrisiken weiterhin überwiegen.

Sprechen wir von Mittel- und Osteuropa, etwa Polen, Rumänien und der Tschechischen Republik: Wie schätzen Sie da die Perspektiven ein? 

Wir legen den Fokus weiterhin auf die Erschließung attraktiver langfristiger Anlagemöglichkeiten. Unter diesen Ländern ist Polen vergleichsweise weit entwickelt – deutlich weiter als Rumänien – und die Tschechische Republik ist die kleinste dieser Volkswirtschaften, gemessen an der Größe ihres Konsummarkts. Alle bieten aber im Vergleich zu anderen Schwellenmärkten nur relativ begrenzte Anlagechancen. Unsere Portfolios sind derzeit nur in geringem Maße in Polen investiert.

Iveco-Experte Leverenz sieht starke strukturelle Hemmnisse beim Schwellenland Brasilien.

Die Pandemie hat Brasilien schwer getroffen, aber die hohen Staatsausgaben und die Lockerung der Geldpolitik haben zu einer gewissen Stabilität der Wirtschaft beigetragen. Bei den lokalen Anlegern werden in der Folge brasilianische Aktien neu entdeckt: Wie nachhaltig ist diese Entwicklung?

Brasilien ist zwar die drittgrößte Volkswirtschaft unter den Schwellenländern, hat aber in den vergangenen zehn Jahren nur sehr schwache Wachstumsraten erzielt. Wir sehen kein Szenario, in dem Brasilien als wachstumsstarke Wirtschaft überzeugen würde. 

Warum?

Brasilien hat mit so vielen selbstverschuldeten Hemmnissen zu kämpfen, dass ein bedeutendes strukturelles Wachstum hier bis auf Weiteres nicht zu erwarten ist. Brasilien hat eine ausgeprägte Doppelwirtschaft, die durch eine extrem ungleiche Einkommensverteilung aufrechterhalten wird. Das ist im Pandemieumfeld sehr deutlich geworden. Diese und weitere Herausforderungen werden das Wachstum kurzfristig bremsen und könnten zu einem langsameren, langwierigeren Erholungsprozess führen. Nach einer pandemiebedingten Rezession im Jahr 2020 dürfte 2021 ein Aufschwung folgen, wenn sich die Nachfrage im In- und Ausland langsam wieder erholt. Für uns gehört Brasilien ganz klar zu den wachstumsschwächeren Volkswirtschaften. Trotzdem sehen wir auch hier einige potenziell spektakuläre Anlagemöglichkeiten. Letztlich investieren wir auch nicht in Länder, sondern in Unternehmen, die uns wirklich überzeugen. Für Optimisten wird Brasilien wahrscheinlich weiter eine Enttäuschung sein. Anleger, die mit der nötigen Vorsicht vorgehen, sollten von brasilianischen Aktien aber nicht enttäuscht werden. 

Wie sieht es im Nachbarland Argentinien aus?

Nach dem Einbruch der Wirtschaft im ersten Halbjahr 2020 befindet sich das Land immer noch in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Durch die anhaltend hohen Infektionszahlen wurden die Einschränkungen in einigen Regionen im vierten Quartal 2020 verlängert. Dies und das sehr schwache Konsumklima machen wenig Hoffnung auf eine kräftige Erholung im Jahr 2021. Nach dem starken Wachstumsrückgang im Jahr 2020 ist aber zumindest im zweiten Halbjahr 2021 mit einer zaghaften Erholung zu rechnen. Die anhaltenden makroökonomischen Ungleichgewichte, die sehr hohe Inflation, Kapitalverkehrskontrollen und eine potenziell marktfeindliche Politik werden das Wirtschaftswachstum aber weiterhin bremsen. 

Welche Länder in Lateinamerika halten für Investoren viel Potenzial vor?

Bei unseren langfristigen Anlageentscheidungen stehen nicht die Länder, sondern die Unternehmen im Fokus. Die größten lateinamerikanischen Volkswirtschaften – Brasilien und Mexiko – haben mit einer Vielzahl von Problemen zu kämpfen, die von einer hohen Auslandsverschuldung und bedrohlichen Staatsdefiziten bis zu einer schlechten Asset-Qualität reichen. Hinzu kommen negative externe Faktoren wie das schwächere Wachstum der Weltwirtschaft, die strukturelle Rohstoffpreisschwäche und die potenziell negativen langfristigen Folgen einer höheren Staatsverschuldung. Die Suche nach Sicherheit und die Angst, etwas zu verpassen (der FOMO-Effekt), haben zu einer Konzentration auf asiatische Aktien geführt und große Teile von Lateinamerika vom Radarschirm der Anleger verschwinden lassen. Wir glauben, dass sich dadurch Möglichkeiten für Stockpicker eröffnen, langfristig solide aufgestellte Unternehmen zu attraktiven Bewertungen zu finden. 

Welche Sektoren sind von besonderem Interesse?

Wir glauben, dass der Mehrwert und die Differenzierung, die wir unseren Investoren bieten können, in der Fokussierung auf Unternehmen – nicht auf Länder oder Branchen – bestehen. Unser Team sucht nach herausragenden Unternehmen, die sich durch strukturelle Wachstumstreiber, nachhaltige Wettbewerbsvorteile und eine gute Unternehmensführung auszeichnen und dank neuer Initiativen und Projekte den Charakter einer Realoption haben, also ähnlich einer Finanzoption ein riesiges Gewinnpotenzial haben, das längerfristig zum Tragen kommt. Das Team meidet ein zu starkes Engagement in zyklischen, standardisierten oder stark regulierten Sektoren. 

Die Bewertungen vieler Tech-Firmen sind hoch. Soll man trotzdem jetzt noch kaufen?

Covid-19 hat zu einem sehr unsicheren Umfeld geführt, in dem die Anleger viel zu stark dazu neigen, aktuelle Trends in die Zukunft fortzuschreiben, und mit ziemlicher Sicherheit aktuell deutlich mehr für diese Unternehmen zahlen, als sie wert sind. Andere disruptive Branchen, in denen die Anleger zu sehr auf eine garantiert rosige Zukunft setzen, sind E-Autos, Onlinehandel und Lebensmittellieferdienste. Durch die jüngsten Entwicklungen haben sich die Aussichten in diesen Branchen vermutlich nochmals verbessert. Dadurch ist aber nicht gesagt, dass alle Anbieter Erfolg haben werden. Die Bewertungen sind hier inzwischen ungerechtfertigt hoch, sodass Investoren hier Geld verlieren könnten. 

Strukturelle Veränderungen trennen Unternehmen in Gewinner und Verlierer. Mit welchen Veränderungen müssen wir für wichtige Industrien rechnen, beispielsweise in den Bereichen E-Commerce, Mobilität, Health Care?

Die Gewinner des Jahres 2020 waren die Unternehmen, die vom FOMO-Effekt profitiert haben – ähnlich wie am Immobilienmarkt, wo auch einige nur aus Angst, etwas zu verpassen, aktiv wurden. Langfristig betrachtet lassen sich nachhaltige Mehrerträge vor allem durch Anlagen in herausragende Unternehmen mit strukturellen Wachstumstreibern, nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen und längerfristigem Gewinnpotenzial generieren. Außerdem halten wir Ausschau nach relativ innovativen Unternehmen, die nicht nur im Technologiesektor, sondern auch in vielen anderen Branchen zu finden sind. Dabei legen wir den Fokus auf disruptive Marktbereiche, differenzierte Geschäftsmodelle oder alternative Produkt-/Serviceangebote sowie eine effiziente Nutzung der Bilanz. 

Wie beurteilen Sie das Thema Wasserstoffmotoren?

Es gibt viele Trends, die durch Covid-19 verstärkt worden sind. Durch die weltweit größere Aufmerksamkeit für die Klimaproblematik und die Überkapazitäten bei den Energieunternehmen können sich neue Chancen für Investoren eröffnen. 

Wie wichtig ist heute das sogenannte Intangible Capital (immaterielles Kapital) wie z. B. Technologie, Design oder Marken?

Im Rahmen unseres langfristigen, auf herausragende und innovative Unternehmen fokussierten Investmentansatzes ist immaterielles Kapital wie Technologie, Design oder Marken eines von vielen Merkmalen, an denen wir überzeugende Anlagemöglichkeiten festmachen.

Offenbar werden die Reichen immer reicher: Welche Zukunft prognostizieren Sie der Luxusgüterindustrie?

Die Luxusgüterindustrie wird einen enormen konjunkturellen Gegenwind zu spüren bekommen. Durch die Reisebeschränkungen und Vermögenseinbußen werden die Gewinne kurzfristig stark unter Druck stehen. Hinzu kommen bedeutende strukturelle Trends wie neue Konsum- und Kommunikationsformen, neue Kanäle und neue Technologien. Dadurch werden sich die Anbieter, die im Wettbewerb ohnehin schon die Nase vorn haben, noch weiter von den schwächeren, unterdimensionierten Marken absetzen. 

Mit welchen Folgen?

Unternehmen mit starken Bilanzen werden sich interessante Gelegenheiten für Zukäufe auf einem günstigen Niveau bieten. Ein gutes Beispiel dafür ist das Unternehmen Kering, dem es gelungen ist, ein dynamisches Portfolio so bekannter Marken wie Gucci, Saint Laurent, Balenciaga und Bottega Veneta nachhaltig wiederzubeleben. Gleichzeitig kann Kering sein Portfolio durch Zukäufe zu attraktiven Bewertungen ausbauen. 

Invesco setzt neuerdings stark auf künstliche Intelligenz, um für Aktienfonds riesige Datenmengen zu analysieren und so bahnbrechende Entwicklungen früher als andere aufzuspüren. Zugleich will man so Unternehmen finden, die diese Trends vorantreiben oder überdurchschnittlich daran verdienen. Können Sie schon eine erste Bilanz wagen?

Die Ursprünge unseres Prozesses reichen bis ins Jahr 1996 zurück und wir verwenden keine künstliche Intelligenz, um riesige Datenmengen zu analysieren. Unser Researchprozess gründet auf einer umfassenden Sondierung möglicher Anlagechancen und einer fortschreitenden Vertiefung unseres Verständnisses der Unternehmen während der Haltedauer. Dieser Prozess kann sich über mehrere Jahre fortsetzen und zu wiederholten Anpassungen unserer Positionen führen. Außerdem nutzen wir die Chance, bei der Bewertung bestehender Investments auch potenzielle neue Anlagemöglichkeiten in naheliegenden Bereichen oder ähnliche Investments in anderen Regionen zu sondieren.  

Trotz der allgemein positiven Stimmung an den Börsen: Welche Risiken sollten Anleger 2021 auf dem Radar haben?

Wir glauben, dass sich die riesige Lücke, die sich im Jahresverlauf 2020 zwischen Growth- und Value-Werten aufgetan hat, wieder abrupt – und wahrscheinlich schmerzhaft – schließen wird. Das bedeutet aber nicht, dass es zu einem plötzlichen Comeback traditioneller Value-Aktien kommen wird. Unserer Ansicht nach werden Value-Anlagen auf Basis des klassischen Mean-Reversion-Ansatzes keinen Erfolg haben, da viele traditionelle Industriesektoren mit erheblichen strukturellen Herausforderungen zu kämpfen haben. Daher wird auch eine Orientierung an historischen oder normierten Bewertungskennzahlen in Verbindung mit der Extrapolation bisheriger Trends möglicherweise nicht die gewünschten Ergebnisse liefern. Investoren könnten künftig von einem differenzierteren Value-Ansatz profitieren.

ZUR PERSON

Justin Leverenz ist Fondsmanager und leitet das OFI Emerging Markets Equity-Team bei Invesco in New York. Er ist für einen der größten Emerging-Markets-Aktienfonds der Welt verantwortlich mit mehr als 50 Milliarden US-Dollar Investitionsvolumen. Zuvor wirkte Leverenz als Senior Research Analyst bei OppenheimerFunds und war Direktor der panasiatischen Technologieforschung bei Goldman Sachs in Asien. Leverenz spricht fließend Mandarin und arbeitete über 10 Jahre im Großraum China. 

]]>
3481
Starke Auswirkung https://materialist.media/starke-auswirkung/ Thu, 19 Mar 2020 06:49:59 +0000 http://materialist.media/?p=3111 Das Internet war gestern. Wie Anleger von der zweiten Welle der Digitalisierung profitieren können.

Viele Anleger schrecken noch immer vor einem Investment in die Blockchain-Technologie zurück. Kein Wunder, denn es handelt sich bei der Technologie um ein relativ junges Anlagevehikel. Dasselbe gilt für ihren bislang bekanntesten Anwendungsfall: Die Rede ist von Kryptowährungen beziehungsweise so genannten Token, die zur dezentralen Funktionsweise einer Blockchain notwendig sind. Was in den 1990er das Internet war, ist heute die Blockchain-Technologie. Anstatt um den Austausch von Informationen geht es dabei um Werte und Rechte. Seien es Nutzungsrechte für Internetplattformen, Lizenzrechte oder Vermögenswerte wie Wertpapiere. Die Blockchain-Technologie ermöglicht es, die heutige Wertschöpfung weiter zu digitalisieren und Werte erstmals rein digital und ohne Intermediäre zu übertragen.

Frank Wagner, CEO der INVAO Group, als Speaker auf einer Branchenveranstaltung in München

Als wäre dieser Transformationsprozess nicht schon abstrakt genug, stellt sich vielen interessierten Anlegern die Frage, auf welche Weise sie in die Technologie investieren können. Die älteste Kryptowährung Bitcoin ist zwar die bekannteste, jedoch bei Weitem nicht die einzige Anwendung der Blockchain-Technologie. Das Zusammenstellen eines gut diversifizierten Portfolios an vielversprechenden Blockchain-Projekten mit unterschiedlichen Anwendungsfällen ist keine leichte Aufgabe.

Schnell geben daher viele Anleger auf, die zwar Interesse an einem Investment in Kryptowährungen haben, aber vor den unzähligen Fragen und Unsicherheiten zurückschrecken. Letztlich verzichtet so ein Gros der Investoren auf die Chance, bei einer der großen Zukunftstechnologien, neben künstlicher Intelligenz und dem Internet der Dinge, dabei zu sein. 

Genau das erkennen inzwischen auch immer mehr professionelle Vermögensverwalter. So hat sich die Erkenntnis in der Finanzbranche durchgesetzt, dass es sich bei Blockchain nicht um einen vorübergehenden Hype handelt, sondern um einen langfristigen Paradigmenwechsel. Entsprechend erleben wir nun, dass Fintechs und andere Pioniere Produktlösungen entwickeln, die die Bezeichnung „anlegerfreundlich“ verdienen. Genau wie im etablierten Wertpapiersektor auch entstehen nun regulierte und diversifizierte Anlageprodukte, mit denen man von der Blockchain-Technologie profitieren kann. 

Eines dieser Pionier-Unternehmen ist die INVAO-Group mit Standorten in Berlin, Liechtenstein und Dubai. Das Investmenthaus hat sich bereits in kurzer Zeit einen Namen als Krypto-Assetmanager gemacht. Im Zentrum steht dabei der IVO Blockchain Diversified Bond, also ein Fonds, der in verschiedene der bekannteren Kryptowährungen investiert. Genau wie bei klassischen Aktien- oder Anleihefonds erhalten so die Anleger die Möglichkeit, diversifiziert in den Kryptomarkt zu investieren, ohne dafür die einzelnen Kryptowährungen mühsam an speziellen Börsen oder bei Brokern erwerben zu müssen. Der Geschäftsführer der INVAO-Gruppe, Frank Wagner, über die Motivation hinter ihrem ersten Fondsprodukt: „Wir nähern uns der zweiten Welle der Digitalisierung, bei der die Blockchain-Technologie signifikant unsere Gesellschaft verändern wird“, sagt er. „Zunächst haben wir für uns selbst ein Produkt gebaut, das es uns ermöglicht, diversifiziert und unter Ausnutzung der Volatilität am Krypto-Markt zu partizipieren. Schnell haben wir festgestellt, dass auch andere Investoren Interesse an diesem Investmentvehikel haben. So ist die Idee für INVAO und einen regulierten Fonds, der allen interessierten Anlegern offensteht, entstanden.“ 

Kurskonkrolle per App.

Laut Wagner bietet sich der Fonds insbesondere für mittel- bis langfristig orientierte Anleger an. Schließlich sei es schwer vorherzusehen, welche der Blockchains sich in den nächsten zwei bis fünf Jahren durchsetzen werden. Bei dem INVAO-Fonds geht es also nicht um kurzfristige Spekulation, wie sie Daytrader mit einzelnen Kryptowährungen betreiben. 

Natürlich werfen Kryptowährungen nach wie vor auch regulatorische Fragestellungen auf. Neben der Blockchain-Strategie der Bundesregierung, die aufgeschlossen gegenüber Investments in Blockchain-Token ist, hat sich auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) des Themas angenommen. Die Regulatoren sind bestrebt, einen klaren Rechtsrahmen zu schaffen, um der Verunsicherung unter Investoren zu begegnen. Letztlich sollen so Standards entwickelt werden, wie wir sie auch vom regulierten Wertpapiersektor gewohnt sind. Ein Ergebnis dieser Arbeit ist beispielsweise, dass Unternehmen, die Kryptowerte verwahren, seit dem 1. Januar 2020 eine entsprechende Lizenz von der BaFin benötigen. Wenn sich Anleger also nicht selbst um die Verwahrung ihrer Kryptowährungen und Token kümmern, sondern diese bei einer verwaltenden Gesellschaft verwahren lassen möchten, dann können sie mit höchsten Sicherheitsstandards rechnen. Frank Wagner begrüßt diesen Schritt der Professionalisierung: „Es ist ganz normal, dass bei technischen Innovationen eine große Unsicherheit herrscht“, sagt er. „In dieser Phase der Enthusiasten, wie ich sie nenne, sind leider auch viele unseriöse Akteure unterwegs“. Das sei auch schon beim Bau der ersten Eisenbahnen und bei dem Internet so gewesen. „Entsprechend ist es uns wichtig, gemeinsam mit den Aufsichtsbehörden für regulatorische Sicherheit zu sorgen. So haben wir beispielsweise einen Wertpapierprospekt entwickelt, der von der Finanzmarktaufsicht (FMA) in Liechtenstein gebilligt ist. Investoren aus der ganzen Welt können nun in unser reguliertes Fondsprodukt auf Token-Basis investieren.“

Neben den Rahmenbedingungen, wie der sicheren Verwahrung und der regulatorischen Sicherheit, steht am Ende jeder Investition die potenzielle Rendite. Gerade bei dem hochvolatilen Kryptomarkt stellt sich die Frage, wie das Team bei INVAO das Asset Management der Kryptowährungen steuert. Wäre das Thema Blockchain nicht schon innovativ genug, springt auch INVAO auf den Zug der künstlichen Intelligenz (KI) auf. Es ist längst kein Geheimwissen mehr, dass es zunehmend kluge Algorithmen sind, die unsere Finanzmärkte lenken. Die größten und erfolgreichsten Hedgefonds setzen schon seit längerem auf Computer- beziehungsweise Software-gestützte Entscheidungen. 

Alte Welt: Das klassische Schließfach einer Bank. Digitalwährungen werden hingegen in einer Wallet aufbewahrt.

So erklärt Wagner, dass es zwar grundsätzlich relativ leicht sei, am Kryptomarkt Geld zu verdienen; dagegen sei es umso schwieriger, kein Geld zu verlieren, da die Volatilität enorm hoch sei. Daher sei der wichtigste Ansatz der Investmentstrategie, diese Volatilität abzufedern und so das Risiko zu reduzieren. „Dieses Risikomanagement ermöglichen wir zum einen durch ein erfahrenes Team an Portfoliomanagern, die die Märkte rund um die Uhr beobachten“, erklärt er. „Darüber hinaus setzen wir aber auch auf Algorithmen, die der menschlichen Entscheidungskompetenz oft überlegen sind. Damit können wir die Subjektivität herausnehmen und marktneutraler handeln. Beispielsweise sind wir dadurch in der Lage, Arbitrage-Trading durchzuführen, also die Preisunterschiede an den einzelnen Börsen auszunutzen.“ 

Das Besondere an dem Geschäftsmodell von INVAO ist, dass 20 Prozent der Fonds-Gewinne in soziale und ökologische Projekte fließen. Durch das so genannte Social Impact Investing möchte die INVAO-Gruppe damit auch Investoren ansprechen, die besonders großen Wert auf ihre soziale Verantwortung legen. 

Auf die Frage, wie er die Marktentwicklung in den nächsten Monaten und Jahren einschätzt, gibt sich Wagner selbstbewusst: „Ich bin überzeugt, dass die Auswirkungen der Blockchain-Technologie auf unsere Gesellschaft und Wirtschaft sogar größer sein werden als die des Internets“, so der INVAO-Geschäftsführer. „Jede Technologie, die echte Probleme löst – und das ist bei Blockchain der Fall – setzt sich am Ende, auch gegen jeden Widerspruch, durch. Wir sind zwar noch in einem frühen und unsortierten Markt, wer aber jetzt klug und diversifiziert investiert, wird mittel- bis langfristig auf jeden Fall von der Entwicklung dieses Marktes profitieren.“  

TEXT//SVEN WAGENKNECHT

]]>
3111
„Erfolg ist harte Arbeit“ https://materialist.media/erfolg-ist-harte-arbeit/ Sun, 05 Jan 2020 16:11:29 +0000 http://materialist.media/?p=3083 Die Anwältin, Finanzexpertin und Unternehmerin Sandra Navidi über mächtige Seilschaften, die Weltsicht der Superreichen und das Phänomen Greta.

Die Anwältin Sandra Navidi ist CEO der in New York ansässigen Unternehmensberatungsfirma BeyondGlobal.

Frau Navidi, Ihr Leben scheint perfekt: Sie sind CEO der Strategieberatung BeyondGlobal, international gefragte Finanzexpertin, Bestsellerautorin und renommierte Anwältin. Wie lautet Ihr Erfolgsrezept?

Kein Leben ist perfekt, aber ich bin sehr happy mit meinem Schicksal. Mein persönliches Erfolgsrezept lautet: Eine Tätigkeit ausüben, die Spaß macht und mit der man das eigene Potenzial verwirklichen kann, sich mit positiven Menschen umgeben, die einem wohlgesonnen sind und einen fordern. Außerdem würde ich sagen, dass ich arbeitsam und diszipliniert bin. Ohne Fleiß kein Preis. Manche Leute haben Glück, aber in der Regel gibt es keine Abkürzungen. Erfolg ist harte Arbeit, aber wenn die Tätigkeit Freude macht, fühlt sie sich nicht wie Arbeit an. Man ist motivierter und leistungsfähiger.

Wann waren Sie das letzte Mal urlaubsreif?

Ich würde sagen, in den ersten Jahren nach meiner Firmengründung, weil ich zu viele Projekte akzeptiert habe. Mittlerweile habe ich gelernt, Mandate abzulehnen. Alles hat sich eingeschliffen und ich bin effizienter. Da ich mir meine Zeit selbst einteilen und von überall arbeiten kann, plane ich regelmäßige Auszeiten ein. 

Ihr Buch „Super-hubs“ führt uns hinter die Kulissen der elitären, fast ausschließlich männlichen Finanzelite. Die Mitglieder haben gigantische Netzwerke. Sind Netzwerke ein Alpha-Männerding?

Ja. Seilschaften, Bruderschaften, Netzwerke sind historisch gesehen eine Männerdomäne. Mittlerweile sind Frauen besser in Netzwerke integriert. Aber in der Regel sind Männer immer noch wesentlich stärker in Macht- und Informationskanäle eingebunden als Frauen. 

Woran liegt das?

Das liegt insbesondere daran, dass es wesentlich mehr Männer in höherstehenden Positionen gibt, die als Förderer infrage kommen. Und Männer bevorzugen es nachweislich, mit anderen Männern zu netzwerken. Die Älteren erkennen sich häufig in den Jüngeren wieder, sie verstehen sie und können sich mit ihnen identifizieren. Männer können auch „unverdächtiger“ Zeit miteinander verbringen. So kann der Senior Manager mit dem Junior Manager nach der Arbeit noch etwas trinken gehen. Bei einer Frau sind Männer da in der Regel vorsichtiger, weil ein falscher Eindruck entstehen könnte. 

Wie erklären Sie sich die generelle weibliche Zurückhaltung beim Netzwerken? 

Frauen ist es unangenehmer, persönliche Beziehungen opportunistisch für das berufliche Fortkommen zu nutzen. Ferner sind Frauen häufig selbstkritischer, unsicherer und viel zurückhaltender als Männer, wenn es darum geht, für sich selbst Werbung zu machen. 

Ist die Fähigkeit zu Netzwerken wichtiger als Talent?

Nein, aber genauso wichtig. Emotionale Intelligenz – eine wichtige Voraussetzung für das Netzwerken – kann fachliche Fähigkeiten nie ersetzen. Auf der anderen Seite ist es schwer, allein aufgrund fachlicher Fähigkeiten weiterzukommen.

Was an Ihrer Arbeit mit Superreichen hat Sie am meisten geprägt?

Sie haben ein hervorragendes disziplinübergreifendes Verständnis davon, wie die Welt funktioniert. Außerdem verlassen Sie sich nicht auf ihr Glück und arbeiten unaufhörlich an sich und ihren Projekten.

Wieso spielen Frauen in Machtkreisen oft die zweite Geige? 

Es besteht immer noch eine Annahme, dass Frauen physisch und psychisch weniger stark belastbar sind als Männer und letztere sich daher naturgemäß besser für Führungsrollen eignen. Ein Experiment hat dies anschaulich bestätigt. Testgruppen bestehend aus Männern und Frauen wurden aufgefordert zu zeichnen, wie sie sich eine Führungskraft vorstellen. Sowohl Männer als auch Frauen zeichneten fast ausschließlich Männer. In der Praxis äußern sich diese Vorurteile zum Beispiel darin, dass Frauen bei Beförderungen an ihren konkreten Leistungen gemessen werden, während Männer häufig allein aufgrund ihres Potenzials befördert werden. 

Sandra Navidi im Gespräch mit dem US-amerikanischen Hedgefonds-Manager Anthony Scaramucci.

Wie können Frauen schneller an ihr Ziel gelangen?

Proaktiv sein und sich kontinuierlich fortbilden. Auch sollten sie sich darauf gefasst machen, dass sie mehr Mühen in das Netzwerken investieren müssen. Absagen sollten Sie nicht persönlich nehmen und Niederlagen schnell abhaken. Und sie sollten auf ihren Instinkt hören, der sich mit zunehmender Erfahrung schärft. 

Wie stehen Sie den sozialen Medien gegenüber? 

Da führt heute für niemanden mehr ein Weg dran vorbei, oder sollte es zumindest nicht. Ich nutze alle meine Social-Media-Kanäle für Marketing. 

Genauer bitte …

Ich bin auf Twitter, Facebook, Instagram, Pinterest und habe einen eigenen YouTube-Kanal. Darüber hinaus bin ich offizieller LinkedIn-Influencer, zu denen auch Bill Gates, Barack Obama and Richard Branson gehören. Twitter finde ich gut, weil man sich da schnell und umfänglich informieren und mitteilen kann. LinkedIn ist nützlich, weil man dort direkt mit seiner Zielgruppe und inhaltsorientiert kommuniziert. Der Vorteil an Instagram und Pinterest ist, dass ich dort meine zum Teil doch sehr abstrakte Welt auch visuell vermitteln kann. YouTube ist praktisch, weil ich dort meine Interviews posten kann. 

Was ist schwieriger anzunehmen: Lob oder Kritik?

Kritik (lacht). Zwar sind mir Komplimente manchmal immer noch unangenehm, aber tendenziell habe ich in Amerika gelernt, sie „graciously“ anzunehmen. Die Amerikaner gehen davon aus, dass jeder gern Komplimente bekommt. Sie empfinden künstliches Wehren eher als unaufrichtig und affektiert.

Welche Eigenschaften machen ein Vorbild aus? 

Zum Beispiel die Disziplin einer Christine Lagarde, die intellektuelle Neugier eines George Soros oder die Widerstandsfähigkeit eines Jamie Dimon. Frauen können sich an Männern aber nur begrenzt orientieren: Eigenschaften wie Aggression oder Redseligkeit werden bei Männern als Zeichen von Kompetenz eingestuft, bei Frauen dagegen als negativ wahrgenommen – übrigens sowohl von Frauen als auch von Männern.

Was erwartet Christine Lagarde in den Fußstapfen Draghis?

Sie tritt ein schweres Vermächtnis an. Im Rahmen der Eurokrise sind die Grenzen zwischen der Zentralbank und der Politik verschwommen. De facto hat die Zentralbank versucht, die Untätigkeit der Politik zu kompensieren und ist damit an die Grenze der verbotenen Staatsfinanzierung gelangt. 

Bietet der EZB-Führungswechsel Spielraum für notwendige Reformen?

Mittlerweile üben auch die Märkte indirekten Druck auf die EZB aus. Notwendige Reformen wie die Bankenunion und integrierte Kapitalmärkte bleiben hinter den gesteckten Zielen zurück. Wegen der unterschiedlichen Wirtschaftsstärken der Länder und der mangelnden politischen Integration sind einige Maßnahmen schwer durchzuführen. 

Frau Lagarde ist keine Zentrallenkerin und keine Ökonomin …

Allerdings hat sie beim Internationalen Währungsfonds einen hervorragenden Job gemacht. Sie besitzt außergewöhnlich gute Kommunikationsfähigkeiten, auch im Hinblick auf die Verständigung mit der Bevölkerung, und das Geschick zur Konsensbildung, was im Hinblick auf die Spaltung der EZB hilfreich ist. 

Befürchten Sie einen drastischen Kurswechsel?

Nein, Lagardes Möglichkeiten sind begrenzt und sie wird sehr vorsichtig agieren, um ein fragiles Europa nicht weiter zu destabilisieren.

Sandra Navidi legt ihr privates Vermögen in Cash und Index-Fonds an.

Was denken Sie über die ultralockere Geldpolitik und die beständig niedrigen Zinsen unter Draghi?

Draghi hatte seinen Job in der größten Krise seit Bestehen der Eurozone zu verantworten. Dass sie dies überlebt und sogar noch einen Konjunkturaufschwung verzeichnen konnte, ist vor allem auch ihm zu verdanken. Insofern hat er einen guten Job gemacht. 

Was sind die Schattenseiten der Ära Draghi?

Er hat die lockere Geldpolitik auf ein noch nie dagewesenes Ausmaß ausgedehnt, Negativzinsen eingeführt, das Inflationsziel verfehlt und eine intern gespaltene EZB hinterlassen.

Hatte Mario Draghi überhaupt eine andere Wahl, als die Zinsen im extremen Ausmaß zu senken?

Nicht wirklich. Bei der Rekordverschuldung und den faulen Krediten im System bestanden zwei Alternativen: Entweder die Schulden abzuschreiben, was Massenpleiten zur Folge gehabt hätte, oder sie zurückzuzahlen, was eine Rezession zur Folge gehabt hätte. Unter diesen Umständen waren die Zinssenkungen die am wenigsten schlechte aller schlechten Lösungen, wobei sie natürlich wiederum eine höhere Verschuldung zur Folge hatten.

Wäre Nichtstun am Ende nicht die bessere Option gewesen?

Wenn Draghi nicht gehandelt hätte, wäre das ganze System gescheitert. Er war Teil eines Systems, das viel größer war als er selbst, und das seit Jahrzehnten dynamischen Kräften wie der Globalisierung und Technisierung unterliegt. Über die dadurch geschaffene Komplexität haben wir praktisch die Kontrolle verloren. Das ist auch der Grund für die gegenwärtige wirtschaftliche, politische und soziale Polarisierung. Draghi, als klassischer Super-hub, hat dieses System nicht geschaffen, hat darüber aber natürlich Einfluss ausgeübt, wobei aber auch er keine Kontrolle darüber hatte. Das ist eine der Schlüsselfragen in meinem Buch: Sind die Krisen der letzten Jahrzehnte auf das Versagen einzelner oder auf ein Versagen des Systems als solches zurückzuführen? Haben die Super-hubs das System gefangen gehalten oder hält das System die sie gefangen? 

Was glauben Sie?

Die Antwort liegt irgendwo in der Mitte, aber das Ergebnis bedeutet, dass wir uns alle als Teil des Systems kollektiv mehr in dieses einbringen müssen, um es zu verbessern. 

Sind in politischen Ämtern strengere Vorschriften zur Eindämmung von Korruption erforderlich?

Natürlich können strengere Gesetze, Vorschriften und Aufsicht als wertvolle Stabilisatoren dienen. Allerdings sind Gesetze in ihrer Effektivität begrenzt, da sie nicht alle Nuancen menschlicher Beziehungen regeln können und es ist praktisch unmöglich, jede Interaktion von Menschen, die sich nahestehen, zu kontrollieren. Von daher sind vor allem auch der persönliche moralische Kompass und die Einhaltung ungeschriebener ethischer Normen von enormer Wichtigkeit.

Angela Merkel scheidet demnächst aus ihrem Amt aus. Wie wäre es mit Ihnen als Nachfolger?

Mir wäre der Job im Zweifel zu hart (lacht). Als Beraterin hinter den Kulissen würde ich mich wohler fühlen. 

Sollten Unternehmer(innen) keine Politiker werden?

Das kann man so pauschal schlecht sagen. Donald Trump ist natürlich, wie vorhergesagt, eine Totalkatastrophe. Auf der anderen Seite würde Michael Bloomberg vermutlich einen guten Job machen. Grundsätzlich würde ich aber sagen, dass Politiker sich zumindest teilweise ihre Sporen in der Politik verdient haben sollten, denn auch hierfür ist eine gewisse Expertise erforderlich. 

Wie würden Sie die aktuelle Stimmung in den USA beschreiben? 

Politisch und gesellschaftlich extrem polarisiert und aufgeladen, was sich vor allem auch in den Auseinandersetzungen um Donald Trump manifestiert. Wirtschaftsbosse sind allein wegen der von Trump geschaffenen Unsicherheit eher pessimistisch. 

Wie lauten die Sorgentreiber?

Eskalation im Handelskrieg mit China: ja oder nein? Eskalation im Handelskrieg mit Europa: ja oder nein? Die neue Nafta-Vereinbarung: Ratifizierung oder Kassierung? Ehrlich gesagt, hier herrscht das Chaos. Der Präsident regiert per Tweet und ändert täglich seine Meinung. Die Unternehmenschefs haben keine Planungssicherheit, weshalb sie sich mit Investitionen und Expansionen zurückhalten. Sollte Trump dem Handel mit China und Europa den Stecker ziehen, hat das eine Neuordnung der Pole der Schwerkraft zur Folge. Deshalb verharren CEOs erst einmal in Abwartehaltung. Das Wachstum wird folglich in den nächsten Monaten deutlich nachlassen. Eine komplett von Trump selbst fabrizierte und völlig unnötige Krise.

Das Gespenst der Krise ist allgegenwärtig. Viele Menschen ahnen: Etwas stimmt nicht in unserem Finanzsystem …

Die Zeichen stehen erst einmal weiter auf Sturm. Der Schuldenstand hat weltweit einen Rekordstand erreicht. Mit dieser Verschuldung steigt entsprechend die Zinslast. Die Zentralbanken haben ihre Munition in Form der lockeren Geldpolitik weitgehend verschossen. 

Kommen wir da wieder raus?

Durch die Versuche, Risiken nach der Finanzkrise von 2008 zu begrenzen, haben wir neue geschaffen, etwa in Form vom Schattenbankensystem. Hinzu kommt jetzt auch noch die weltweite politische Polarisierung, der Protektionismus, die unsichtbar voranschreitende digitale Disruption und Cyber-Kriminalität. Systemweite holistische, antizyklische Maßnahmen, die eigentlich notwendig wären, werden nicht getroffen. 

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich überall immer weiter. Finden Sie das nicht beängstigend?

Es gibt wenig, was mir größere Sorgen bereitet. Das Phänomen klingt abstrakt, aber die Menschen empfinden es als sehr real. Die Einkommens-, Vermögens- und insbesondere die Chancen-Ungleichheit bergen enormen sozialen Sprengstoff. Und die Ungleichheit wird erst einmal weiter zunehmen, verstärkt durch die lockere Geldpolitik, den Monopolismus der Konzerne. 

Welche Investments und Sicherheitsmaßnahmen finden Sie sinnvoll als Krisenprävention und Absicherung gegen Verluste?

Zunehmende Ungewissheit, größere Risiken und erhöhte Volatilität: Da gilt es, Risiken im Portfolio graduell zurückzufahren und auf historisch solide Klassiker wie Berkshire Hathaway, Johnson & Johnson und DowDuPont zu setzen, weil sie sich in vergangenen Krisen bewährt und ihren Wert erhalten haben. Wichtig ist eine Diversifikation durch breite globale Streuung über verschiedene Branchen mit Fokus auf Wachstumsmärkte in Asien, Südamerika und Afrika, am besten über Fonds, insbesondere Index-Fonds. Einen Teil in Cash zu halten, ist ratsam, da sich bei einer Korrektur günstige Kaufgelegenheiten bieten können. Darüber hinaus empfiehlt sich eine Investition von bis zu zehn Prozent in Gold, sozusagen als Versicherungspolice. 

Welche Investmentchancen sehen Sie im neuen Jahr und welche Risiken fürchten Sie am meisten?

Ungewissheit überwiegt Risiken und Risiken überwiegen die Chancen. Risiken kann man berechnen, aber Ungewissheit nicht. Am meisten fürchte ich mich vor einem neuen Black-Swan-Ereignis, das wir noch gar nicht auf dem Radar haben. Das größte konkrete Risiko ist eine Eskalation der Handelskriege. 

Wie lautet Ihre Empfehlung?

Sich auf Unternehmen konzentrieren, die von Strafzöllen eher weniger tangiert werden, wie eher auf den Binnenmarkt fokussierte Dienstleistungsunternehmen mit geringen Lohnkosten. Darüber hinaus empfehlen sich Branchen, die durch Strafzölle geschützt werden. 

In den USA zählen hierzu insbesondere die Stahlindustrie, Energieunternehmen und Tech-Firmen …

Allerdings können sich auch bei diesen aufgrund der durch die Handelskriege verursachten Disruption internationaler Lieferketten die Herstellungskosten erhöhen. Ebenfalls unter dem Handelskrieg werden Firmen leiden, die nach China exportieren, wie General Motors, Chrysler und Ford, und Unternehmen, die Waren aus China importieren, wie Walmart. Weitere Firmen wie Apple, Nike, Caterpillar und Starbucks, die sich bisher in China erfolgreich auf Expansionskurs befunden haben, müssen mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen. Auch deutsche Autobauer wie BMW und Daimler bleiben nicht verschont.

Es ist heute viel von Megatrends wie Smart Farming, künstliche Intelligenz und virtuelle Realität die Rede. Welche Innovationen beeindrucken Sie am meisten?

Am meisten beeindruckt bin ich von künstlicher Intelligenz, also selbst lernenden Maschinen, die die kognitiven Fähigkeiten von Menschen replizieren und letztendlich übertreffen. Darin liegt viel Potenzial, aber es lauern auch viele Gefahren. Die zugrunde liegende Kultur im Silicon Valley ist ein Thema für sich …

Die Fridays-for-Future-Bewegung sorgt mit ihrer Symbolfigur Greta für ziemlich viel Wirbel.

Jede Bewegung braucht einen Super-hub, einen menschlichen Mittelpunkt, der ein Ziel definiert, dem Netzwerk eine Richtung vorgibt, ihm Energie einhaucht und es verbindet. Occupy Wall Street ist beispielsweise gescheitert, weil es keinen wirklichen Anführer gab. 

Wie viel revolutionäres Potenzial steckt tatsächlich in dieser Sache?

Fridays for Future birgt enormes Potenzial. Wenn allerdings die Konjunktur abkühlt und die Menschen sich sorgen, dass sie der Umweltschutz Arbeitsplätze kosten könnte, könnte die Bewegung wieder an Schwung verlieren.

Wenn Greta Thunberg ihre Tochter wäre, was würden Sie ihr raten?

Ich würde wahrscheinlich nicht viel sagen, aber sie aufmerksam beobachten, um notfalls „Leitplanken“ zu setzen. Greta hat das Glück, ihre Berufung gefunden zu haben, lehrreiche Erfahrungen zu sammeln, wertvolle Kontakte aufzubauen und eine Plattform zu errichten. Auf all diesen Dingen kann sie, selbst wenn sie einmal einen ganz anderen Weg einschlagen sollte, aufbauen. Das ist ein großes Privileg.

Wie erklären Sie das Versagen der großen Koalition beim Klimaschutz?

Politik unterliegt der Kurzfristigkeit der Wahlzyklen, genau wie die Konzerne den Quartalszyklen. Kurzfristige Maßnahmen sind immer leichter zu verkaufen als langfristige, insbesondere wenn diese bei ungewissem Ausgang Opfer erfordern. Der Konjunkturabschwung und das Aufleben des Populismus erschwert die Konsensfindung. Vermutlich muss es erst ganz schlimm kommen, bis etwas passiert.

Viele Anleger wollen nachhaltiger anlegen. Wie geht das?

Das Angebot im Nachhaltigkeitssektor ist enorm breit gefächert und fast alle Finanzinstitute bieten Produktpaletten an. Zunächst sollte man sich überlegen, welche Zielsetzung einem wichtig ist: beispielsweise Klimaschutz, Menschenrechte oder verantwortungsvolle Unternehmensführung. Abhängig von Expertise, Risikoprofil, Zeithorizont und des Investitionsvolumens können Investoren direkt in Firmen, Aktien, Anleihen, Investmentfonds, ETFs (Exchange Traded Funds) oder Zertifikate investieren. Da viele Institute Nachhaltigkeitsinvestments mittlerweile als Marketinginstrument nutzen, sollte man genau prüfen, dass auch drin ist, was draufsteht, und die Kosten unter die Lupe nehmen. 

Kann nachhaltige Geldanlage die Welt retten? 

Kapitalströme hatten schon immer einen gewissen Einfluss auf Trends. Zumindest ist dies eine Möglichkeit, wie private Investoren ihren Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft geltend machen können. Man sieht ja auch, dass wenn beispielsweise institutionelle Investoren ihren Einfluss in Aufsichtsräten bezüglich Nachhaltigkeit ausüben, dies durchaus spürbare konkrete Auswirkungen hat.

INTERVIEW//KATJA ECKARDT

ZUR PERSON

Sandra Navidi ist CEO der in New York ansässigen Unternehmensberatungsfirma BeyondGlobal. Die aus internationalen Medien bekannte Wirtschaftsexpertin ist in Deutschland und den USA als Rechtsanwältin zugelassen. Darüber hinaus ist Navidi Autorin des Bestsellers „Super-hubs: Wie die Finanzelite und ihre Netzwerke die Welt regieren“ und Moderatorin ihres eigenen wöchentlichen Wirtschafts-Podcasts „Wie tickt Amerika“.

]]>
3083
Neue Rezepte https://materialist.media/neue-rezepte/ Sat, 23 Nov 2019 13:43:45 +0000 http://materialist.media/?p=3008 Bis 2050 soll die Weltbevölkerung auf fast zehn Milliarden anwachsen. Die Nahrungsmittelindustrie ist dabei, sich dramatisch zu verändern. 

TEXT//GERD HÜBNER

Würden Sie knapp zwölf Milliarden Dollar für ein Unternehmen zahlen, das rote Zahlen schreibt und in diesem Jahr 240 Millionen Dollar umsetzen will? Nein? Dann sollten Sie die Finger von Beyond Meat, Hersteller von Fleischersatzprodukten, lassen. Oder glauben Sie, dass die Firma in diese Bewertung hineinwachsen kann? Dass mehr hinter diesem Trend der fleischlosen Ernährung steckt? „Zweifellos sehen wir derzeit eine Art disruptive  Entwicklung im Nahrungsmittelmarkt“, stellt Eike Wenzel vom Institut für Trend- und Zukunftsforschung fest. 

Foto//Brooke Lark/unsplash

Das hat mehrere Gründe. Auf der einen Seite wächst die Weltbevölkerung – die Vereinten Nationen geht von einem Anstieg von heute 7,6 Milliarden auf fast zehn Milliarden Menschen in 2050 aus. Zugleich steigt der Wohlstand in vielen Schwellenländern und damit auch der Proteinverbrauch. Laut einer UBS-Studie lag dieser 1961 bei 22,4 Kilogramm pro Jahr. Heute sind es 29,6 Kilogramm. Allein in China ist er von 1961 bis 2013 um 152 Prozent geklettert. Und Fleisch wird immer mehr zur wichtigsten Eiweißquelle. „China ist auf Grund des gestiegenen Wohlstandes heute schon der größte Fleischkonsument der Welt“, informiert Wenzel. 

Foto//Jasmin Schreiber/unsplash

Die andere Seite ist die Entwicklung der weltweiten Ackerflächen und der Klimawandel. Laut dem Institut für Bevölkerung und Entwicklung in Berlin standen 1960 der Weltbevölkerung pro Kopf noch 0,44 Hektar Ackerland zur Verfügung. Im Jahr 2000 waren es knapp 0,22 Hektar pro Kopf und Mitte des 21. Jahrhunderts werden es nur noch 0,15 Hektar pro Kopf sein. Dabei benötigt die Viehzucht laut AXA Investment Managers rund 80 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Pflegen also zehn Milliarden Menschen den Ernährungsstil der Industrieländer heute, stößt die Welt noch schneller an ihre Grenzen. 

Foto//Mario Caruso/unsplash

Denn das tut sie bereits, wie der World Overshooting Day zeigt. An diesem „Erdüberlastungstag“ halten sich das Angebot der Erde und der Verbrauch die Waage. Danach leben wir auf Kosten der Zukunft, also künftiger Generationen. In diesem Jahr war es der 29. Juli, so früh wie noch nie. Zwar beinhaltet dies nicht allein Nahrung, aber es ist ein wichtiger Faktor. Denn Rinder stoßen Methan aus – ein Treibhausgas, das 25-mal stärker wirkt als CO2.

Foto//Tracey Hocking/unsplash

Diese Tatsache scheint zu einem Umdenken zu führen. „Bekannt ist schon lange, dass zu viel Zucker, qualitativ schlechtes Fleisch und viele andere Ernährungsgewohnheiten der eigenen Gesundheit nicht förderlich sind“, erklärt Trendforscher Wenzel. „Aber jetzt kommt mit dem Klimawandel eine neue Dimension dazu.“ Im Jahr 2014 hat er 15 alternative Lebensstile identifiziert. Damals haben sie gut 30 Prozent am Konsumverhalten ausgemacht. „Heute liegen sie bei rund 50 Prozent und sie sind damit schon zum Mainstream geworden.“ 

Marktforscher wie Allensbach oder SKOPOS bestätigen den Wandel. Allein hierzulande gibt es derzeit etwa acht Millionen Vegetarier und 1,3 Millionen Veganer. Und täglich sollen 2.000 Vegetarier und 200 Veganer dazukommen. „Dass immer mehr Menschen beginnen, ihre Ernährungsgewohnheiten zu überdenken, hat – ähnlich wie disruptive Technologien – das Potenzial, die Lebensmittelindustrie zu verändern und neue Gewinner und Verlierer hervorzubringen“, meint Sustainability-Analystin Verena Kienel von Ökoworld.

Und Fleischersatz ist nur einer von vielen Trends. „Denken Sie an Urban Farming, an Fleisch aus dem Labor, das so genannte Clean Meat, aber auch an Technologien zur Wassereinsparung in der Landwirtschaft, den Verpackungsbereich oder die Vermeidung von weggeworfenen Lebensmitteln“, sagt Kienel. Fleisch aus dem Labor kann laut einer UBS-Studie die Treibhausgasemissionen gegenüber der landwirtschaftlichen Fleischerzeugung um 78 bis 96 Prozent reduzieren und braucht 99 Prozent weniger Land. Mit Urban Farming kann 95 bis 99 Prozent Wasser eingespart werden. 

„Unternehmen, die in solchen Bereichen tätig sind, können aus der Nachhaltigkeitsperspektive positiv bewertet werden“, so Kienels Fazit. Und das wiederum dürfte das Umsatzwachstum anzutreiben. Laut der UBS soll der Umsatz mit Fleisch auf Pflanzenbasis von 4,6 Milliarden Dollar in 2018 auf 85 Milliarden Dollar in 2030 steigen. Im Bereich Urban Farming soll er von 15 Milliarden Dollar in 2018 auf 90 Milliarden Dollar in 2030 wachsen. 

Daraus können attraktive Anlageideen entstehen. Für interessant erachtet Kienel zum Beispiel die Firma Vitasoy aus Hongkong, die sojabasierte Lebensmittel herstellt und auf Gentechnik verzichtet, oder die Verpackungsfirma SIG Combibloc aus der Schweiz. „Das Unternehmen stellt seine Verpackungen zum Beispiel durch Nutzung recycelter Materialien und Biokunststoffen oder den Verzicht auf Aluminium nachhaltig her.“

Ein Unternehmen, an das kaum jemand bei nachhaltigen Anlagen denken dürfte, ist die Fast-Food-Kette Chipotle. „Sie setzt auf regionales und qualitativ hochwertiges Fleisch, hat transparente Lieferketten, bietet fleischloses Essen an und achtet auf umweltfreundliche Verpackungen“, so die Nachhaltigkeitsanalystin. Keine direkten Investments gibt es zwar beim Urban Farming, Anleger könnten aber auf LED-Hersteller wie Osram ausweichen. Schließlich ist die Beleuchtung hier ein entscheidender Faktor. 

Als einen wichtigen Trend im Nachhaltigkeitsbereich erachtet Walter Hatak, Leiter Responsible Investments bei der Erste Asset Management, auch die biologische Landwirtschaft. „Hier ist die litauische AUGA Group interessant, die zu den größten vertikal integrierten Biolandwirtschaftsfirmen Europas zählt.“ Die Beispiele zeigen aber auch, dass Anleger tief graben und die Unternehmen sehr gründlich analysieren müssen, um passende und attraktive Investments zu finden.

Fonds, die allein auf das Thema Nahrungsmittel der Zukunft setzen, gibt es derzeit auch nicht. Zumindest aber finden solche Unternehmen in den Ökoworld-Fonds Berücksichtigung, ebenso wie in anderen Nachhaltigkeitsfonds wie dem AXA WF Framlington Clean Economy oder im Erste WWF Stock Environment. Dazu kommt, dass sich heute nicht einschätzen lässt, wer sich am Ende durchsetzt. Denn die großen Lebensmittelkonzerne beginnen, auf diesen Trend zu reagieren. 

So hat der Fleischgigant Tyson Foods, der seine zwischenzeitliche Beteiligung an Beyond Meat abgestoßen hat, bekannt gegeben, selbst in dieses Segment vorstoßen zu wollen. „Und auch Konzerne wie Nestlé sind dabei, sich auf die sich verändernden Ernährungsgewohnheiten einzustellen“, sagt Wenzel. Zudem hat speziell Beyond Meat mit Konkurrenten wie Impossible Foods zu kämpfen, das seine fleischlosen Buletten an Burger King verkauft. Trotz des Potenzials könnten zwölf Milliarden Dollar für den Börsenneuling doch zu viel sein.  

ZITATE

„China ist auf Grund des gestiegenen Wohlstandes heute schon der größte Fleischkonsument der Welt.“ Eike Wenzel 

]]>
3008
Ganz eigene Klasse https://materialist.media/ganz-eigene-klasse/ Sat, 23 Nov 2019 12:59:35 +0000 http://materialist.media/?p=2938 Besondere Jagdwaffen liegen als Investitions- und Kunstgegenstand hoch im Kurs – hier die Gründe.

TEXT//SÖREN PIOT DE COURCELLES

Waffen sind ein heikles Thema. Kaum ein Gegenstand ist gesellschaftlich derart kontrovers aufgeladen und wird so heiß diskutiert. Längst ist es nicht mehr die Angst vor zu laschen Waffengesetzen, sondern das Aufeinandertreffen von Ideologien und dazugehörigen Interessen. Wer Wolf und Wisent als neue Bewohner im heimischen Wald verdrängen möchte, der braucht eine Waffe. Das macht in vielen Köpfen aus einem Gegenstand, der Ingenieuren und Kunsthandwerkern Meisterleistungen abverlangt, ein einfaches Schießgewehr, eine Tötungsmaschinerie ohne Ästhetik. 

Eine Jagdwaffe von Sauer mit geöffnetem Lauf.

Dass das falsch ist, leuchtet schon dann ein, wenn man die Maserung auf einem Schaft aus edlem Nussbaumholz betrachtet. Nach dem Betrachten folgt die Haptik und spätestens dann versteht man, dass hier hochwertigstes Handwerk vor einem liegt. Handwerk, das in seiner aufwendigsten Ausführung um die 25.000 Euro kosten kann und per se keine wirklichen Preis- und Aufwandsgrenzen zu kennen scheint.

Arbeiten an einer Purdey.

Investitionen, die insbesondere Waidmänner und -frauen zu tätigen bereit sind. Dabei geht es zum einen um eine hochwertige Waffe, die technisch ein sicherer Begleiter auf der Jagd ist. Zum anderen ist eine Waffe immer ein Ausdruck des persönlichen Stils und Geschmacks ihres Besitzers. Nicht umsonst ist die Gestaltung von Jagdwaffen von alters her eine Fusion von Disziplinen wie Goldschmiedekunst, Schreinerei oder Ingenieurswesen. Ein solches Alltagskunstwerk soll bei seiner Vollendung im optimalen Fall einen Teil der Seele seines Besitzers reflektieren. Waffen, die so hochwertig von Hand hergestellt wurden, begleiten ihren Träger durch sein Leben und werden nicht selten an die nächste Generation weitergegeben.

Nicht nur Schall und Rauch: Die Bockdoppelflinte von Artemis von J. P. Sauer & Sohn für Damen.

„Für mich muss es Holz sein, ich persönlich würde mich mit einem modernen Material wie Carbon schwertun. Selbst habe ich eine wunderschöne, alte Büchse meines Vaters übernehmen dürfen. In ihrem Holzschaft sind drei Silberfiguren eingelassen, Reh, Schwein und Fuchs, was sie noch ein wenig besonderer für mich macht“, beschreibt Annabelle Wätjen, Agrarwirtin und Jägerin aus Niedersachsen, ihre liebste Jagdwaffe. So gesehen sind Waffen, die ohne Funktionsverlust weitergegeben werden können, eine lohnende Investition. Insbesondere die Option, eine hochwertige Waffe auch nachträglich noch modifizieren zu können, macht einen Teil ihrer Vielseitigkeit als Sachwert aus. Schäfte lassen sich austauschen, Läufe gravieren und bei der einfach aufgesetzten Optik sind dem Besitzer keine Grenzen gesetzt. 

Feinstes Kunsthandwerk: Gravur-Arbeit für eine Waffe des britischen Traditionsherstellers James Purdey & Son.

Wie wertvoll Waffen auch mit der Zeit werden können, beweist immer wieder eindrucksvoll das englische Auktionshaus HOLTS. Hier gingen schon Schrotflinten des Traditionsherstellers James Purdey & Son für umgerechnet über 115.000 Euro unter den Hammer, Preistendenz steigend. Flinten gehören zur Ausstattung des englischen Landbesitzers, genauso wie sein Tweed. Das 1814 gegründete Unternehmen kreiert seiner willigen Kundschaft bis heute die perfekte Waffe. Insbesondere die kunstvoll gravierten und in Gold emaillierten Läufe seiner traditionellen Double Rifles verlassen schon beinahe den Kosmos des einfachen Handwerks und werden zu Kleinkunstwerken eigener Klasse. Mit der „Rose and Scroll“-Gravur entwickelte Purdey im Jahr 1870 die eigene Signaturgravur und damit gleichzeitig das wohl meistkopierte Gravurmuster auf englischen Flinten. Als eine aufrichtige Form der Schmeichelei beschreibt die Londoner Firma diese Art des Plagiats. Eine Haltung, die sich der britische Hersteller erlauben kann, nachdem seine Flinten in Sammlerkreisen als eines der wertstabilsten Fabrikate gelten.

Die „Rose and Scroll“-Gravur von Purdey.

„Für mich ist es sehr wichtig, die Werte und Traditionen meiner Familie weiterzuführen, und dazu gehört auch die Jagd. Aus diesem Grund würde ich am liebsten mit der Flinte jagen, die mein Großvater von meinem Urgroßvater geschenkt bekommen hat und die mein Vater heute führt: eine Doppelflinte von Merkel aus Nussholz mit deutscher Backe und dezenter Gravur. Sie ist nach meinem Empfinden sehr klassisch schön und ästhetisch, ohne zu stark aufzufallen. Leider ist sie für mich viel zu groß, weshalb ich geneigt wäre, nach London zu Purdey’s zu gehen, um mir meine eigene ganz individuelle Flinte machen zulassen, die ich irgendwann meinen Töchtern weitervererben kann“, erklärt Christiana Brand, 28 Jahre alt und seit 16 Jahren aktive Waidfrau, ihr persönliches Verhältnis zu Jagdwaffen.

Das Audley House ist seit 1883 Hauptsitz der englischen Traditionsmanufaktur Purdey.

Insbesondere das Holz der Schäfte ist wortwörtlich eine Klasse für sich. Die Unterscheidung in Holzklassen gibt aufsteigend Auskunft über die Qualität und Exklusivität des jeweiligen Rohstoffs.

Wer seine Merkel-Flinte ganz individuell gestalten möchte, wählt mit einem erfahrenen Schäfter sein Holz selbst im Lager der Firma.

Merkel benutzt ausschließlich einwandfreie Hölzer von bis zu 300 Jahre alten Bäumen. Wer seine Flinte ganz individuell aussuchen möchte, macht einen gesonderten Termin aus und wählt mit einem erfahrenen Schäfter sein Holz selbst im Lager der Firma. 

Arbeiten am Schaft einer Merkel.

Natürlich gibt es auch die großen Namen, die längst zu Platzhirschen auf dem Markt herangereift sind. Ein solch kapitaler Hirsch ist die Firma Merkel in Suhl, Thüringen, bekannt für hochwertige Flinten. Der Bestseller unter den Meisterwerken von Merkel ist die Helix. Die Waffe kommt in verschiedenen Ausführungen daher, zum Beispiel mit Kunststoffschaft und höhenverstellbarer Schaftbacke, als Model Helix Alpinist. Wie der Name vermuten lässt, ist sie insbesondere die richtige Wahl für die Gebirgsjagd, bei der präzise Schüsse auf weite Distanz das A und O sind. Neben dieser praktischen Sonderkonstruktion lässt sich die Helix von ihrem Käufer auch ganz frei konfigurieren. 

Plan für die Herstellung eines Maßschaftes bei Merkel.

Man muss aber nicht erst nach England schauen, um ausgezeichnete Waffenhersteller zu finden. Neben bekannten Büchsenmachern wie Hartmann & Weiss gibt es viele kleine heimische Manufakturen auf der gesamten Landkarte verstreut, deren Arbeit hoch gelobt wird. Darunter findet sich auch die Waffenschmiede von Mark Ganske. Der Büchsenmacher fertigt auf seinem Hof in der Lüneburger Heide hochwertigste Waffen für eine anspruchsvolle Klientel. Eine gute Waffe muss für den verantwortungsvollen Waidmann oder die Waidfrau sitzen wie ein Maßanzug und ihren Zweck uneingeschränkt erfüllen können. „Als Jäger ist es unsere Pflicht, gut zu treffen, und dafür brauchen wir Waffen, die exakt zu uns passen “, kommentiert Ganske den Zweck seiner Produkte und unterstreicht damit auch die Verantwortung, die mit deren Nutzung einhergeht.

Ausserordentliche Ästhetik: Eine Merkel Helix mit Munition und Jagdmesser.

 Aber nicht nur das Holz macht die Helix zu einer Jagdwaffe mit außerordentlichem ästhetischem Potenzial. Trotz der Hightechfertigung von Merkel werden auch nach wie vor kleine Kunstwerke von Hand auf das System gebannt. Besonders schön ist eine Arbeit von Graveurin Karola Knoth, die mit Hunting Magic Moments eine Komposition aus verschiedenen Wildtieren in Bewegung auf der Helix verewigt hat. „Erst die handgestochene Gravur macht aus dem Gebrauchsgegenstand Waffe ein personifiziertes Kunstwerk. Der Besitzer der Waffe kann über die Gravur seine persönliche Haltung zum Wild und zur Natur zum Ausdruck bringen. Die Gravur macht aus der Massenware ein individuelles, von Hand verziertes Einzelstück“, erklärt Lutz Morgenroth, seit 38 Jahren im Unternehmen beschäftigt und technischer Leiter der Produktion, die Wichtigkeit einer persönlichen Gravur.

Gravurmeisterin Karola Knoth von Merkel: Um Muster und Tierdarstellungen perfekt umzusetzen, bedarf es einer ruhigen Hand und jahrelanger Erfahrung.

Dass Kreativität und Handwerk wirklich so gut wie keine Grenzen gesetzt werden können, beweist auch Waffenhersteller Blaser in Isny, Baden-Württemberg. Ein Team von herausragenden Graveuren, Meister ihres Faches, zaubert Kunstwerke auf die Waffen. Auf dem Herz des Gewehres, dem Systemkasten, verewigen sie selbst erdachte oder von der Kundschaft gewünschte Motive aus Silber, Gold oder mit gefassten Edelsteinen. Dabei sind Szenen von abstrakt bis völlig naturalistisch ausgearbeitet möglich. Ein solches Kunstwerk fertigte die Firma zum Jubiläum ihrer Repetierbüchse R8. Die R8 100.000 ist mit einer Gravur des Blaser-Wappentiers, des Argali, versehen. 

Eine Waffe ist immer auch ein Ausdruck des persönlichen Stils und Geschmacks ihres Besitzers. Die R8 100.000 von Blaser ist mit der Gravur des Blaser-Wappentiers, des Argali, versehen.

„Der in Einzelanfertigung ausgeführte, hochglanzpolierte, kannelierte Achtkantlauf wurde vom Team des Blaser Custom Shop mit Visierteilen versehen, die – aus dem Vollen gearbeitet – der exquisiten Laufsilhouette harmonisch folgen. Das skelettierte Achtkant-Pistolengriffkäppchen und die Stahlschaftkappe mit edlen Inlays aus Ebenholz vervollkommnen das einzigartige Wurzelmaserholz der höchsten Blaser Schaftholzkasse zu einem Meisterwerk auf Holz und Stahl. Der Systemkasten wurde komplett von Hand fassoniert“, beschreibt die Firma Blaser offiziell ihr Meisterwerk und hat damit einen kunsthandwerklichen Gebrauchsgegenstand geschaffen, dem der Wertzuwachs schon beinahe garantiert ist.

Das skelettierte Achtkant-Pistolengriffkäppchen mit einem Inlay aus Ebenholz vervollkommnen das Wurzelmaserholz einer Blaser.

Für Sammler und Wertstabilität sind daher vor allem die Qualität der verwendeten Materialien sowie die Präzision des dazugehörigen Kunsthandwerks ausschlaggebend. Letzteres geht, wie jede Kunstrichtung, mit klangvollen Namen einher, die ein Sammlerherz höherschlagen lassen. Das bedeutet aber auch, dass sich ein Sammler mit Investitionsgedanken entweder selbst herausragend mit der Materie auskennen muss oder auf das Wissen von anderen angewiesen ist. Dieses Wissen umfasst nicht nur die Namen von Graveuren wie Philippe Grifnée oder Ken C. Hunt, sondern auch die Einordnung in den geschichtlichen Kontext und die Herkunftshistorie eines Stückes. Provenienzforschung ist demnach ein Hauptbestandteil für das sinnvolle Investieren in eine Jagdwaffe, sollte es sich bereits um eine Antiquität handeln.

Kunstvoll verzierte Schaftkappe einer Blaser.

Neben Investition und Jagdvergnügen macht die Faszination Waffe doch noch etwas ganz Anderes aus. Sie bringt uns auf ungewöhnliche Art und Weise unseren Ursprüngen näher und drückt eine Beständigkeit aus. Es wäre unsinnig, zu leugnen, dass der falsche Umgang mit Waffen die vermutlich destruktivsten Effekte in unserer Gesellschaft voranbringt. Gleichzeitig wäre es ebenfalls unsinnig zu leugnen, dass uns die Entwicklung der Schusswaffen als Menschen auf zivilisatorischer Ebene maßgeblich geprägt hat. Noch bevor wir Kriege mit Waffen bestritten, lag der Geruch von Schießpulver in der Luft, um uns zu versorgen und tierisches Protein auf den Tisch zu bringen. Darum entwickelten sich Kultur und Brauchtum, die wir bis heute im Jagdtreiben wiederfinden. 

Exklusives Detail einer „Atelier 1751“ von J. P. Sauer.

Diese generationsübergreifende Weitergabe von Kultur kommt nicht zuletzt daher, dass bei Jagdwaffen der Gegenstand an sich mehrere Generationen der Benutzung überdauert. So bringt jede Waffe ihre ganz eigene Sammlung an Geschichten mit. Insbesondere die Geschichten werden durch mündliche oder schriftliche Überlieferung verdichtet und bilden so eine lebendige Tradition. 

Eine kunstvoll verzierte S 404 Mammut von J. P. Sauer.

Diesen Traditionsgedanken hat sich der Waffenhersteller Sauer als Motto ausgesucht. Die konkrete Vision nennt sich „Gewehre für Generationen“ und bringt damit klar zum Ausdruck, dass hier Investitionen für die Zukunft getroffen werden. Was daran auffällt, ist, dass wir dieses Denken bisher fast nur aus der Schweizer Uhrenindustrie kennen. Ein Vergleich, der sich nicht zuletzt wegen der Feinmechanik beider Dinge gern ziehen lässt. „Eine hochwertige Waffe ist immer auch eine Investition in die Werthaltigkeit. Der Unterschied zu einer guten Uhr ist jedoch, dass bei einer Waffe die Qualität ihrer Bauteile noch mehr darüber entscheidet, wie lang sie präzise benutzt werden kann. Regelmäßiges Schießen verlangt nämlich schwachem Material einiges ab und führt ultimativ dazu, dass schon bald ein neues Gewehr angeschafft werden muss“, kommentiert Johann-Philip Jencquel, Wildfleischunternehmer aus Hamburg, die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer hochwertigen und damit kostenintensiven Flinte. 

Ein Kunstwerk sowie eine mechanische Meisterleistung – die Bestandteile des Systems einer Waffe von Merkel werden immer sorgfältig per Hand zusammengesetzt.

Abschließend muss man sagen, dass die Diskussion von Jagdwaffen als Investition eine ist, die viel Fachwissen und die nötige Passion für die Thematik voraussetzt. In Waffen zu investieren, wie manch einer es in seltene Uhren tut, ist nicht empfehlenswert. Dafür ist der Markt zu speziell und die Marktzugangsschranken mit hohen Preisen sind gleichzeitig zu hoch. Für jeden, der allerdings in der Materie aufgeht und materielle Werte sucht, die sich mit seinem Hobby verknüpfen lassen, stellen Jagdwaffen ein riesiges Kollektionspotenzial dar. Dazu kommt ein ganz eigener Charme von jagdlichem Brauchtum in ganz Europa, das mit dieser Sammelleidenschaft einhergeht. 

]]>
2938
Ende der Freiheit https://materialist.media/ende-der-freiheit/ Tue, 08 Oct 2019 08:33:41 +0000 http://materialist.media/?p=2850 Für den Finanzexperten Holger Schmitz ist das vollständige Bargeldverbot nur noch eine Frage der Zeit – und hoch gefährlich.

INTERVIEW//SÖREN PIOT DE COURCELLES

Was steckt aus Ihrer Sicht hinter den Bestrebungen, den Bargeldverkehr einzuschränken? 

Angeblich geht es vor allem um Geldwäscheprävention und um den Kampf gegen Steuerhinterziehung. Doch in Wahrheit möchten Politiker verhindern, dass Sparer ihr Geld von ihren Konten abheben und zu Hause aufbewahren. Denn so könnten die Transaktionen bei Bedarf nicht überwacht werden. Bargeld bedeutet Unabhängigkeit vom Bankensystem und von staatlicher Überwachung. Ziel aber ist, dass alle Kontobewegungen und Transaktionen sowie die individuellen Vermögenssituationen weitgehend nachvollziehbar sind. Hierdurch ließe sich bei staatlichen Haushaltslücken jeglicher Art eine Sparersteuer direkt von den Konten der Bürger einziehen.

Das Thema besorgt Sie primär aus dem Freiheitsgedanken heraus? 

Eindeutig. Eine Bargeld-Verabschiedung als Selbstzweck fände ich höchst traurig. Mich beunruhigt die Abschaffung oder vielmehr die Zurückdrängung des Barverkehrs besonders deswegen sehr, weil hinter der Sache ein übergeordnetes Ziel steht: dieses heißt Enteignung. 

Enteignung ist ein ziemlich starker Begriff…

Lassen Sie mich etwas weiter ausholen. Bargeld ist ein Sorgenkind von mir, auch noch aus einem weiteren Grund. Mein Ansatz ist, dass die einzelnen Staaten zu stark verschuldet sind. Wir haben seit der letzten Finanzkrise unsere Schulden nicht abgebaut. Stattdessen haben wir sie weiter aufgestockt. Und jetzt stehen die Staaten, die einen mehr, die anderen weniger, vor einem Problem: Wie kommt man von der Schuldenlast wieder herunter? Die Schulden der Staaten sind die Vermögen ihrer Bürger. Wenn der Staat pleitegehen sollte, heißt das, dass seine Bürger zahlungsunfähig sind. Aus der bilanziellen Brille betrachtet kürzt man durch das Streichen der Staatsschulden letztendlich auch die Vermögen der Bürger. Wir machen also eine Bilanzkürzung.  

Die Enteignung der Bürger geschieht vorderhand nicht auf der Bargeld-Seite, sondern auf der Buchgeld-Seite. Wenn man auf der Buchgeld-Seite enteignen will, dann muss man im Vorfeld die Schlupflöcher schließen. Eines dieser Schlupflöcher ist – zumindest noch zurzeit – die Flucht ins Bargeld. 

Bar auf die Hand: Bei Geschäften unter Unbekannten eine oft beliebte Zahlungsart.

Bedeutet die Abschaffung des Bargelds die Beschneidung der individuellen Freiheit?

Natürlich gibt es Stimmen die sagen, man muss es nicht ganz abschaffen. Wenn man die großen Scheine abschafft und nachher nur noch Zehner und Zwanziger übriglässt, dann ist dieser Fluchtweg aber bereits weitgehend verstellt. Nehmen wir die neuen Tausendernoten der Schweizer Nationalbank. Die sind etwas kleiner als die alten derzeit noch zusätzlich im Umlauf befindlichen Tausender. Wenn man mit den neuen Scheinen eine Million vom Konto abhebt, kommt man auf ein Paket, das gerade mal zehn Zentimeter hoch ist und ein Kilo wiegt. 

Damit lässt sich die Million recht bequem bewegen.

Ja klar. Doch wenn man das in Zehner-Noten macht, dann sieht das Ganze schon anders aus. Dann muss man nicht ein Kilo fortbewegen, sondern ungefähr hundert Kilo und nicht zehn Zentimeter Papier, sondern einen Zehn-Meter-Stapel. Damit ist die Freiheit zur Geldbewegung massiv eingeschränkt.

Bargeldlos zahlen scheint insbesondere bei jungen Menschen ein Trend, nicht zuletzt wegen mobiler Endgeräte und neuer Funktionen der Geldkarten. 

Ich sehe diesen Trend auch und bemerke gleichzeitig eine bei jungen Erwachsenen weit verbreitete Ahnungslosigkeit. In erster Linie sehen diese Generationen erst mal nur die Bequemlichkeit, und das ist alles. Dass sie damit einen Datenstrom von sich preisgeben, ist ihnen entweder nicht bewusst, oder schlichtweg egal. 

Kleines Papierformat, hoher Wert: Die 1000 Schweizer Franken Note.

Kann die Abschaffung des Bargelds ein weiterer Schritt sein hin zu erhöhter Durchsichtigkeit des Individuums?

Betrachten wir die großen Interessensgruppen, die das Bargeld gern komplett verschwunden sähen. Das sind nicht nur Politiker, die damit bestimmte Interessen verbinden. Zu den Playern zählen auch die ganzen Unternehmen, die davon profitieren. Dabei denke ich jetzt in erster Linie nicht an Banken oder Kreditkartenanbieter, die an jeder Transaktion ein bisschen was verdienen. Sondern es geht mir darum, dass für sich genommen erst einmal auf den ersten Blick gar nicht so verdächtige Unternehmensgruppen Interesse daran haben. Egal, ob das jetzt Versicherungen sind oder Werbetreibende, die Konsumgewohnheiten über Big Data dann noch besser adressieren können. Seien wir doch mal ehrlich, das können wir doch nicht wollen. 

Es gibt es durchaus Modelle, in denen es ohne Bargeld funktioniert. Beispielsweise bei unseren skandinavischen Nachbarn aus Schweden. 

Der Zwang der Obrigkeit. Die Menschen in Skandinavien hatten nie die Wahl, ob sie mit Bargeld oder mit Karte zahlen. Egal wo man etwas kaufen möchte, wird man konsequent darauf aufmerksam gemacht, dass kein Bargeld genommen wird. Meiner Meinung nach ist die Sache, speziell in Schweden, eine ausschließlich erzwungene Situation. Das Ganze war durchaus sehr raffiniert eingefädelt. Die Geschäfte hatten damals die Wahl, entweder nur noch Kartenzahlung zu akzeptieren, oder die Lizenz zu verlieren.

Ist diese Entwicklung noch aufzuhalten?

Ich fürchte nein, weil die Interessensgruppen einfach zu stark sind. Es ist im Programm des Internationalen Währungsfonds verankert, dass es ein Bargeldverbot geben soll. Diesem Endziel geht klar die Reduzierung des Bargelds voraus. Das ist längst beschlossene Sache. 

Könnten Kryptowährungen als Alternative zum Bargeld nicht ein Freiheitsbringer sein?

Es wäre gar nicht so schlecht, wenn es so wäre, allerdings bin ich da skeptisch. Es gibt verschiedene Stimmen zum Thema, manche gehen sogar so weit, hinter dem Pseudonym des Programmierers eine Organisation zu vermuten. Unbestreitbar mussten wir in den letzten Jahrzehnten einen starken Vertrauensverlust in die Papierwährung hinnehmen. Bei einer neuen, großen Währungskrise werden wir einen weiteren sehr massiven Verlust des Vertrauens in Papierwährungen erleben. Spätestens dann müssen die verantwortlichen Regierungen einen Ersatz dafür finden. Denkbar, also zumindest in meinem Wertekanon, wäre demnach eine Kryptowährung.

Bitcoin läßt Peer-to-Peer-Transaktionen zu, wurde deflationär programmiert und stellt sich dezentral dar. Eigentlich doch eine wunderbare Möglichkeit, sich gegen die staatliche Komplettkontrolle von Geldgeschäften zu wehren.

Wenn starke Interessensgruppen eine Zielvorstellung gebildet haben, wird alles, was davon abweicht, rigoros bekämpft. Wir hatten in der Vergangenheit bereits das Verbot von Gold im Tauschgeschäft. Daraus entwuchs eine systematisch aufgebaute Gefahr für Individuen, die sich dieser Zahlungsalternative bedienen. Ich würde mir wünschen, dass es anders kommt, aber mit Blick auf die Vergangenheit ging mir diese Hoffnung verloren. 

Könnte eine rigorose staatliche Kontrolle von Zahlungsmitteln nicht sogar zu revolutionären Umtrieben führen?

Durchaus möglich, aber das braucht seine Zeit. Wenn man so schaut, wie lange beispielsweise das DDR-Regime überleben konnte, fragt man sich, wann die Menschen wegen Bargeld auf die Straßen gehen. Ich sage es Ihnen ehrlich, das beunruhigt mich. Ich habe kein Interesse daran, über 30 Jahre in staatlicher Unfreiheit zu leben, bevor etwas passiert. Was uns bleibt, ist auf die allgemeine Vernunft der Mitmenschen zu hoffen.

Was ist von der Empfehlung des Internationalen Währungsfonds zu halten, einen Wechselkurs zwischen Bar- und Buchgeld einzuführen?

Letztendlich geht es auch hier darum, Bargeld abzuwerten und unattraktiv zu machen. Wenn in Zukunft nicht nur Buchgeld, sondern auch Bargeld mit Negativzinsen schleichend enteignet wird, gibt es nicht mehr viele Ausweichmöglichkeiten für Sparer. Da auch verzinsliche Wertpapiere wie Staatsanleihen seit längerem negativ rentieren, dürfte viel Kapital in die Aktienmärkte fließen – mit entsprechend steigenden Aktienkursen. 

Welche Anlageform bietet aus Ihrer Sicht derzeit am meisten Schutz? 

Sparer, die ihre Vermögen schützen möchten, kommen an Aktien nicht vorbei. Entscheidend ist jedoch dabei, in welche Unternehmen und Märkte man investiert. Aufgrund der vielschichtigen und sich weiterhin verschärfenden Probleme innerhalb der Eurozone empfehlen wir Anlegern, ihr Kapital bevorzugt in Regionen anzulegen, die stabile Rahmenbedingungen und starke Währungen bieten. Gute Beispiele hierfür sind die Schweiz und Norwegen. Solide und liquide Werte von Unternehmen mit hoher Substanz sollten die Basis einer langfristigen Vermögensstrategie bilden. 

Finanzexperte Dr. Holger Schmitz.

ZUR PERSON

Dr. Holger Schmitz begann nach einer Banklehre bei der Deutschen Bank und dem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Essen 1988 als Portfolio- und Fondsmanager bei der FIDUKA Depotverwaltung in München (André Kostolany) und ist seit 1993 als Vermögensverwalter und Depotmanager im Tessin und in München tätig.

]]>
2850
Ein Königreich für einen Schuh https://materialist.media/ein-koenigreich-fuer-einen-schuh/ Sun, 28 Jul 2019 15:23:16 +0000 http://materialist.media/?p=2823 TEXT//HARALD CZYCHOLL

Mit 16 Jahren zur ersten Million: Der US-Amerikaner Benjamin Kapelushnik hat es vorgemacht. Zu seinem Reichtum hat dem jungen Mann dabei seine Leidenschaft für Schuhe verholfen – genauer gesagt Sneaker, die weltweit zum lukrativen Investmenttrend avanciert sind.

Bei diesen Schuhen sind die weisse Socken von Adidas wohl ein Must.

In dieser Hinsicht werden die beliebten Zweckschuhe ihrem Namen gerecht: Das englische „sneak“ bedeutet so viel wie schleichen – und ebenso haben sich Sneaker in der jüngeren Vergangenheit quasi auf leisen Sohlen zu einem Sammler- und Statusobjekt gemausert. Sie werden mitunter wie Wertpapiere in Online-Börsen gehandelt und sorgen für irrwitzige Warteschlangen vor Schuhgeschäften und Server-Abstürze in Online-Shops. Besonders ambitionierte Käufer greifen sogar schon zu spezieller Software – den sogenannten Sneaker-Bots – um während des Ansturms auf den Webshop noch ein Paar zu ergattern. Und das durchaus zu Recht, wie nicht nur das Beispiel von Benjamin Kapelushnik zeigt. Denn für einzelne Exemplare legen die als „Sneakerheads“ bezeichneten Schuhinvestoren auch schon mal fünfstellige Beträge auf den Tisch.

Sehen wie alt aus, sind aber neu: Trendy Sneaker von Gucci.

Der Hype wird natürlich kräftig von den Herstellern befeuert. Das gilt vor allem für die drei großen Labels beziehungsweise Linien Adidas, Nike und Jordan (Nike). Denn schließlich gelten die Gesetze der Marktwirtschaft auch auf dem Sneaker-Markt: Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis – und wo das Angebot künstlich knappgehalten wird und die Nachfrage hoch ist, steigen die Preise in schwindelerregende Höhen. Und das färbt natürlich auf die Marke insgesamt ab und sorgt auch auf dem Massenmarkt für gute Verkaufszahlen.

Hat immer wieder Raritäten im Regal: Kultladen für Sneaker-Fans in Amsterdam.

Ein Beispiel ist der Schuh „München Made in Germany“ von Adidas, ein Sneaker im Oktoberfest-Look, den der fränkische Sportartikelhersteller im vergangenen Jahr auf den Markt gebracht hatte. Für satte 200 Euro wurden die Treter in limitierter Stückzahl über die hauseigene Webseite verkauft – und waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Denn „limitiert“ ist eine Art Reizwort für einen echten Sneakerhead – dann greift er zu, in der Hoffnung auf eine Vervielfachung des Preises. Wer den Schuh dann eine Weile aufhebt – natürlich ungetragen – kann mitunter satte Gewinne einstreichen.

Sehr gesucht: Nike-Sneaker mit Denim.

Welche Preissprünge möglich sind, zeigt etwa der im Jahr 2002 erschienene „Nike SB Low Reese Forbes Denim“: „Nach nicht einmal 20 Jahren stieg der Wert des Sneakers um über 7.500 Prozent“, sagt Waltraut Seidel von der Beratungsfirma Finanzplanung Seidel aus Stuttgart. Aber auch neuere Schuhe erzielen astronomische Preise: Der „Nike Air Mag Back to the Future (2016)“ wird derzeit mit 23.000 Dollar (etwa 20.000 Euro) taxiert. Der Schuh, erschienen anlässlich des „Zurück in die Zukunft“- Jubiläums hat zum einen ein besonderes Feature – er schnürt sich nämlich wie im Film von selbst. Zum anderen war er auf eine Stückzahl von gerade einmal hundert Paaren limitiert – und war nur über eine Verlosung zu ergattern, für die obendrein eine Teilnahmegebühr von zehn Dollar fällig wurde. Die Erlöse wurden seinerzeit an die Michael-J.-Fox-Stiftung für Parkinson-Forschung gespendet.

Nike Jordan Air

Gehandelt werden die wertvollen Schuhe über spezialisierte Online-Marktplätze wie etwa StockX oder Klekt. Diese Handelsplattformen sorgen zugleich für Preistransparenz – aus den bei StockX oder Klekt erzielten Verkaufspreisen lässt sich dann der aktuelle Sammlerwert des jeweiligen Schuhs ablesen. Auch auf allgemeinen Plattformen wie eBay und in spezialisierten Facebook-Gruppen oder auf Instagram werden Sneaker mitunter gehandelt. Grundsätzlich gilt dabei wie für alle anderen Sammelobjekte auch, dass sie grundsätzlich immer nur so viel wert sind, wie jemand anderes dafür zu zahlen bereit ist. „Wer schnell und unüberlegt verkauft oder ungenügend Wissen über das Marktgeschehen besitzt, zahlt normalerweise drauf“, warnt Thomas Schmidtkonz, Sammelexperte und Herausgeber des Onlineportals Sammler.com. „Die höchsten Preise erzielt der Verkäufer, der den aktuellen Wert kennt und der einen anderen Interessenten im Direktverkauf dazu findet.“

Ohne Schnürsenkel: Back to the Future-Reverenz von Nike.

Die Gefahr, dass der Hype plötzlich endet und Sneaker rapide an Wert verlieren, sehen Experten grundsätzlich erstmal nicht – zumindest solange die Hersteller den Markt weiter mit exklusiven, limitierten Modellen versorgen und den Hype so immer wieder neu anfachen. Jüngst kamen etwa von Nike die Modelle „Travis Scott x Air Jordan Retro 1 High OG TS SP Cactus Jack” und „Air Jordan 4 Breed“ zu Preisen von knapp 200 Euro sowie von Puma der „Puma Cell Alien OG“ für 120 Euro auf den Markt. Die Schuhe waren jeweils nach kurzer Zeit ausverkauft und der Preistrend auf den Online-Marktplätzen zeigt nach oben. Dennoch sollte man eine gewisse Vorsicht walten lassen und nicht blindlings drauflos kaufen, rät Finanzexpertin Seidel. „Der alternative Investmentbereich ist für Anleger interessant, die bereits in gutes Fundament im klassischen Vermögensaufbau haben.“ Ein Finanzpolster aus genügend Liquidität und anderen Vermögenswerten sollte also vorhanden sein, bevor man in Sneaker investiert. „Zudem sollte hier nur Geld investiert werden, dessen Verlust man im Worstcase auch verkraften kann, ohne ernstlich finanziell in Schwierigkeiten zu geraten“, so Seidel.

Lässig währt am längsten: Sneaker sind immer auch eine Botschaft.

Und dann sollte man natürlich auch Spaß am Investmentobjekt selbst haben – wer sich überhaupt nicht für das Thema Sneaker interessiert und lediglich einen schnellen Gewinn realisieren möchte, sollte sich eher nach klassischen Formen der Geldanlage umschauen. Es sei elementar wichtig, „sich mit dem Markt intensiv zu beschäftigen“, sagt Finanzexpertin Seidel. „Gerade solche Spezialmärkte haben ihre eigenen Raffinessen und Gesetzmäßigkeiten.“

Zwischen Fetisch und Kultobjekt: Manche Sneaker werden eher auf Händen getragen als an den Füssen.

Zu den Informationsquellen, die man als angehender Sneakerhead regelmäßig nutzen sollte, zählen Sneaker-Magazine und -Blogs, etwa der „Overkill Blog“ das vom gleichnamigen Store in Berlin-Kreuzberg herausgegeben wird, einem Urgestein in Sachen Sneaker. Auch der „Deadstock Blog“ und das Onlinemagazin Sneakerlover.de bieten den Lesern umfassende Informationen über aktuelle Releases und die Beliebtheit verschiedener Marken und Modelle. Bei Everysize.com wiederum findet man neben einem recht spartanisch gehaltenen, aber dafür umso informativeren News-Bereich, der über die aktuellen Trends und Releases informiert, insbesondere die wohl umfassendste Suchmaschine in der Sneaker-Welt – die Datenbank umfasst gut 20.000 Modelle von 80 Marken.

Auf dem neuesten Stand zu sein ist unumgänglich, wenn man in die Sneaker-Welt eintauchen möchte. Denn nur, wenn man genau darüber informiert ist, wie der jeweilige Release funktioniert – also ob die Schuhe online oder im Store angeboten werden, ob man sich vorab registrieren muss und wie dann das Verkaufsprocedere abläuft –, hat man eine Chance, eines der begehrten Modelle zu ergattern. Anschließend gilt es, die Entwicklung der Verkaufspreise über StockX und Klekt verfolgen, um den richtigen Verkaufszeitpunkt nicht zu verpassen.

Und wenn der Hype doch irgendwann vorbei ist und die Preise abstürzen, bleibt wie bei allen Sachwerten zumindest der emotionale Wert erhalten – und der praktische Nutzen. Rare Weine kann man austrinken, seltene Oldtimer fahren, Luxusuhren am Handgelenk tragen – und auch einen Turnschuh kann man natürlich auch in seiner ursprünglichen Bestimmung nutzen. Die limitierten Modelle von Adidas, Nike und Co machen dann zumindest in jedem Fall optisch etwas her.

Promi-Faktor treibt Nachfrage nach oben

 Ob Basketballlegende Michael Jordan, Popstar Pharell Williams oder Rapper Kanye West: Die Hersteller setzen auch auf den Promifaktor, um ihre Sneaker an den Mann respektive die Frau zu bringen. Die prominenten Partner haben teilweise eigene Modelinien – und treiben damit die Begehrtheit der Schuhe in astronomische Höhen. So verkaufte etwa Nike alleine im Jahr 2015 Air Jordans für 2,6 Milliarden Dollar. Und das ist natürlich nicht zum Schaden der Promis, die ihren Namen dafür hergeben: Angeblich streicht beispielsweise Michael Jordan dank einer Umsatzbeteiligung 100 Millionen Euro pro Jahr ein.

 

So wird man zum Sneakerhead

Up-to-Date sein:Sneaker-Magazine und -Blogs, etwa das „Overkill Blog“, das „Deadstock Blog“ und das Onlinemagazin Sneakerlover.de geben Auskunft über die Beliebtheit unterschiedlicher Marken und Modelle sowie aktuelle Releases.

– Die Abläufe kennen:Ob im Store oder online: Zu wissen, wie ein Release funktioniert – also über welche Kanäle die Schuhe wann angeboten werden, ob man sich dafür vorab registrieren muss und wie dann das Verkaufsprocedere abläuft –, hilft dabei, sich die begehrtesten Modelle zu sichern.

– Die Wertentwicklung verfolgen:Auf Portalen wie StockX oder Klekt kann man sich hinsichtlich der Preisentwicklung informieren. Auch die Sneaker-Suchmaschine Everysize.de ist in jedem Fall einen Besuch wert.

– Billig kaufen, teuer verkaufen:Beim Kauf und Verkauf der Sneaker sind Glück und Geschick gefragt, um zum kleinen Preis zu kaufen und teuer wieder zu verkaufen. Wer stets gut informiert ist, hat einen Wettbewerbsvorteil.

]]>
2823
„Nicht mehr ernten als man pflanzt“ https://materialist.media/nicht-mehr-ernten-als-man-pflanzt/ Sun, 14 Jul 2019 07:56:56 +0000 http://materialist.media/?p=2688 INTERVIEW//SÖREN PIOT DE COURCELLES

Die fürstlich Castell’sche Bank ist die älteste Bank Bayerns und das bringt ja eine gewisse Art der Verantwortung mit sich. Was ist ihr Rezept, dass man Währungsreformen, Finanzkrisen und schlechte Jahre bisher erfolgreich überstanden hat?

Ferdinand Fürst zu Castel-Castell Es gibt den Satz, den habe nicht ich erfunden: „Es gibt uns nicht nur noch wegen der Geschäfte, die wir gemacht haben, sondern auch wegen der Geschäfte, die wir nicht gemacht haben.“ Wir beschränken uns auf das, was wir gut können, was wir vielleicht sogar besser können als andere. Wir machen nicht alles, aber das, was wir machen, machen wir richtig gut. Das ist eine Entwicklung innerhalb der Unternehmensgeschichte. Als die Bank gegründet wurde gab es aufgrund einer Hungersnot in der Region, einen großen Bedarf an verlässlichen Kreditmöglichkeiten Die Bank wurde aus fürsorglichen Überlegungen heraus für die Einwohner der Grafschaft Castell, insbesondere die Notleidenden, gegründet. Für dieselbe Idee hat 200 Jahre später Muhammad Yunus den Friedensnobelpreis bekommen und zwar für die Vergabe von Mikrokrediten in Bangladesch. Seine Idee war, man muss Menschen, die in Not geraten sind, durch ganz kleine Kredite die Möglichkeit geben, wirtschaftlich selbstständig zu werden und sich damit selbst zu sanieren. Dieselbe Idee hatte einer unserer frühen Mitarbeiter, Herr von Zwanziger, 1774. Davon ist nur in der Weltöffentlichkeit nicht so viel Notiz genommen worden. Aber wir haben das Bankhaus dafür bis heute erfolgreich geführt. Heute gibt es jedoch keinen Mangel mehr an Kreditversorgung. Erstens haben wir keine politische Verantwortung mehr als Familie und zweitens gibt es daran keinen regionalen Mangel. Wonach es jedoch eine große Nachfrage gibt, sind vertrauenswürdige Partner in der Vermögensanlage. Auch in dem Geschäft sind wir seit Gründung der Bank tätig. Aber ich glaube die große Nachfrage hat sich ein bisschen verlagert. Kredite bekommen Sie heute von vielen Anbietern, Zahlungsverkehr bekommen sie auch von sehr vielen Anbietern, teilweise sogar kostengünstiger als von uns. Deshalb fokussieren wir uns für die Zukunft auf die Vermögensverwaltung und da auf die risikoadjustierte Vermögensverwaltung.

Die Bank wurde aus fürsorglichen Überlegungen heraus für die Einwohner der Grafschaft Castell, insbesondere die Notleidenden, gegründet.

Das Schloss der Familie Castell in Unterfranken.

2018 war für viele Banken, insbesondere im Privatbankensektor, ein schwieriges Jahr. So auch für die Fürstlich Castell’sche Bank. Können Sie nochmals kurz umreißen inwiefern das Jahr schwierig war und wo die Probleme lagen?

Es lag 2018 an mehreren Faktoren. Unter anderem liegt es  im Moment an der Niedrigzinsphase. Wir betreiben über sehr lange Zeit das Geschäftsmodell Einlagen anzulegen und Kredite auszuleihen, Die Marge hierfür ist dünner geworden durch die aktuelle Niedrigzinsphase. Die Zinsen gingen deutlich weiter nach unten als viele Menschen das erwartet hätten und diese Phase hält auch weiter an. Da wir vorsichtige Kaufleute sind, stellen wir uns auch darauf ein, dass das noch lange Zeit so anhalten könnte. Das heißt, wir machen keine Geschäfte, die von steigenden Zinsen ausgehen, denn das kann man nicht beeinflussen. Entsprechende Angebote wären nicht seriös. Deshalb ist unser Zinsgeschäft kleiner geworden und wir planen auch dort kein weiteres, großes Wachstum.

Wäre es denn keine Option für Sie bei einer niedrigen Zinsmarge einfach das Volumen ihrer Geschäfte zu erhöhen?

Nein, das machen wir nicht. Das halten wir auch nicht für klug. Wenn man von schlechten Geschäften einfach mehr macht, kauft man sich gleichzeitig erhebliche andere Risiken ein. Sobald die Zinsen wieder steigen, tun sich entweder die Kunden schwer ihre Kredite zu bedienen oder wir tun uns schwer mit der Refinanzierung. Wir möchten gern Geschäfte machen, von denen beide Seiten profitieren.

Das ist eine lobenswerte Philosophie. Die Geschäftsführung hat sich Anfang 2019 dafür entschieden, mehrere Ihrer Filiale zu schließen. Ich nehme an, es handelte sich dabei um einen wirtschaftlichen Schritt?

Es handelte sich hierbei um eine Kostenfrage. Wir haben, um dieses Geschäftsmodell mit Einlagen und Krediten zu betreiben, ein entsprechend großes Filialnetz unterhalten. Früher hat man das für wichtig erachtet, um Einlagen zu bekommen. Wenn die Zinsmarge jetzt jedoch so niedrig ist, schaut man sich die Filialen genauer an. Hierbei stellt man fest, dass sich das Kundenverhalten in den letzten Jahren stark verändert und sich der Bedarf nach einem weiten Filialnetz erheblich reduziert hat.
Ich persönlich gehe auch nur in eine Bankfiliale, wenn ich meine Mitarbeiter besuchen will. Meinen Zahlungsverkehr wickle ich online ab und wenn ich Beratungsbedarf habe, dann vereinbare ich einen Termin mit meinem Berater. Wir stellen also fest, dass sich das Verhalten vieler unserer ländlichen Kunden gewandelt hat. Nicht aller, das ist bestimmt auch eine Generationsfrage, aber das ist eine Entwicklung, die uns momentan stark beschäftigt.

Ein Finanzinstitut zum Anfassen: Die Fürstlich Castell’sche Bank in Würzburg.

Ich gehe davon aus, dass sie als Privatbank der Generationswechsel noch in anderen Bereichen stark beschäftigt. Wir befinden uns momentan in einem starken Umbruch der Vermögensstrukturen. Noch nie wurden so viele Vermögen an die nächste Generation weitergegeben und gleichzeitig bilden sich durch die die Digitalisierung ganz neue Privat- und Unternehmensvermögen. Gerade junge Menschen fühlen sich doch vermeintlich vom althergebrachten Konzept einer Privatbank nicht mehr angesprochen. Können Sie diesen Trend so unterschreiben?

Nein, das würde ich nicht unterschreiben. Das Bedürfnis einen vertrauenswürdigen Partner zu finden, dem man gerne sein Geld anvertraut, weil man bei dem Unternehmen von Charakter sprechen kann und ihm hohe Kompetenz zutraut, steigt eher an. Auch weil große Marktteilnehmer teilweise nicht mehr so attraktiv wahrgenommen werden wie früher. Mein Eindruck ist, je globaler und je digitaler das ganze Leben wird, desto größer wird eigentlich die Sehnsucht nach einem Unternehmen, das man verstehen kann, bei dem man weiß wer dahintersteht, welche Geschichte es hat. Geldanlage ist nämlich kein rein rationaler Vorgang, sondern hat viel mit den Emotionen des Anlegers zu tun.

Das Bedürfnis einen vertrauenswürdigen Partner zu finden, dem man gerne sein Geld anvertraut, steigt eher an.

Es ist für Ihren Kundenkreis demnach wieder wichtiger, hinter die Fassade des Bankhauses sehen zu können?

Es ist zwar ein blöder Begriff, aber der Kunde hat mit uns eine Bank zum Anfassen. Auch für Kunden, die auf digitalen Kanälen mit uns kommunizieren ist es wichtig zu wissen, dass es ein Familienunternehmen ist, es sich um eine unabhängige Bank handelt und die Menschen, die dort die Entscheidungen treffen, kennt man vielleicht nicht persönlich, aber ich weiß immerhin wer es ist. Im Französischen bezeichnet man eine Aktiengesellschaft als ‚Société Anonyme‘. Wir sind das genaue Gegenteil! Wir sind zwar eine Aktiengesellschaft, dabei aber überhaupt nicht anonym. Es gibt nur zwei Eigentümer das sind Fürst Otto zu Castell-Rüdenhausen und ich, dabei gibt es noch drei Vorstände und einen Aufsichtsrat.
Die Kunden haben also die Wahl zu sagen, sie möchten zu einem Familienunternehmen oder sie fühlen sich wohler bei einem international verflochtenen Unternehmen, bei dem man sich womöglich lange in ausländischen Handelsregistern aufhalten muss, um die Besitzverhältnisse zu verstehen. Was wichtig ist, ist unterschiedliche Kommunikationswege anzubieten. Wir bieten unseren Kunden unterschiedliches an, sie können beispielsweise hier in die Filiale in Castell gehen und sich von zwei sehr kompetenten Mitarbeiterinnen beraten lassen. Sie können uns auch anrufen oder sie können mit uns über Mail oder Skype oder wie auch immer kommunizieren. Ganz ohne mit einem Mitarbeiter zu sprechen geht natürlich auch, da greifen sie einfach zu ihrem Handy, rufen ‚Castell Insight‘ auf und wickeln alles digital ab.

Das klingt jetzt erstmal nicht ganz so persönlich, wie sie es am Anfang betont haben?

Was uns ganz wichtig ist, unsere Vermögensanlage wird von Menschen gemacht. Es ist kein ‚Robo-Advice‘ der unsere Vermögensverwaltung macht und zwar egal, ob sie ein Depot bei uns haben,  sie unsere Vermögensverwaltenden Fonds über andere Banken oder andere Vertriebsmittler erwerben oder ob sie diese über unsere digitale Vermögensverwaltung  bei uns kaufen. Die Entscheidungen werden immer von Menschen getroffen. Und zwar von denselben Menschen, die die großen Familienfonds verwalten. Die gleichzeitig auch die große Vermögensverwaltung in den Depots machen. Es ist immer das gleiche Team und immer die gleichen Grundüberzeugungen. Das andere sind für uns nur Kommunikationswege Telefon, persönliches Gespräch, Brief oder digital. Da sind wir flexibel und kommen dem Kunden gerne entgegen. Der Kunde muss nur sagen ich will mit euch Geschäfte machen, oder nicht.

Die Entscheidungen werden immer von Menschen getroffen. Und zwar von denselben Menschen, die die großen Familienfonds verwalten.

 Sie haben im Januar 2019 die erste Frau in den Vorstand ihres Bankhauses berufen. In ihrer Pressemitteilung war zu lesen, dass Pia Weinkamm sich um das weitere Wachstum des Bankhauses kümmern soll. Wo soll denn dieses Wachstum perspektivisch hinsteuern?

Die Wachstumsphase soll in der Vermögensverwaltung stattfinden. Die Vermögensverwaltung soll an unseren wichtigen Standorten, dazu muss man wissen, dass wir zwischen zwei Sorten von Standorten unterscheiden, Filialen und Repräsentanzen, stattfinden. Die Repräsentanzen in Nürnberg, München, Ulm oder Mannheim. An diesen Beratungsstandorten wollen wir wachsen. Was wir beschlossen haben zu konzentrieren, sind Filialen, die nur noch sehr eingeschränkte Öffnungszeiten hatten und gleichzeitig im ländlichen Raum liegen. Diese Filialen wurden, aufgrund der erwähnten veränderten Kundenbedürfnisse, nicht mehr frequentiert. Deswegen sortieren wir unsere Standorte, haben dadurch aber kein Personal reduziert.

Würden Sie nochmals kompakt zusammenfassen, in welchen Bereichen die Fürstlich Castell’sche Bank wachsen möchte?

Wir wollen in der Vermögensverwaltung wachsen. Wir wollen das mittelständische Firmenkundengeschäft beibehalten und gleichzeitig vorsichtig wachsen. Und wir bieten neue Kommunikationskanäle für unsere Kunden an.

Sie sprachen bereits 2010 von Nachhaltigkeit im Wirtschaften. Damals handelte es sich noch nicht um das Wort, den Marketinghebel, wie wir ihn heute überall erleben und genau deshalb interessiert es mich, inwiefern sie den Gedanken in ihre Geschäftsphilosophie integrieren?  

Das Wort Nachhaltigkeit verwenden wir nicht so oft, aber das ist eigentlich genau das, was wir tun. Mein Auftrag als Unternehmer ist es, ich habe das hier ja nicht gegründet, sondern von meinem Vater anvertraut bekommen, es gesund weiterzugeben. Daher ist es mein Ziel als Unternehmer, das Unternehmen größer, schöner, stabiler und ertragreicher weiterzugeben, als ich es bekommen habe. Das gilt für die Bank, für die Landwirtschaft, für den Forstbetrieb und für das Weingut. Da muss man wieder dazusagen, dass wenn ich bei Landwirtschaft, Wald und Bank von mir rede, ich natürlich auch von Fürst Otto zu Castell-Rüdenhausen spreche. Das Weingut hingegen ist alleinig mein Betrieb. Was es erheblich leichter macht, ist, das Fürst Otto und ich uns in dieser Grundsatzfrage völlig einig sind. Die Geschäfte weiterzuentwickeln, um sie weiterzugeben, das ist eigentlich der Kern von Nachhaltigkeit.  Daraus lassen sich ein paar Dinge ableiten: Das Unternehmen wird nicht geteilt und das Unternehmen muss ertragreich sein, um ungeteilt weitergegeben werden zu können.

Die Geschäfte weiterzuentwickeln, um sie weiterzugeben, das ist eigentlich der Kern von Nachhaltigkeit

Man kann also sagen, dass der Gedanke der Nachhaltigkeit tief in ihrer Grundüberzeugung verwurzelt ist?

Sehen sie, der Begriff der Nachhaltigkeit kommt ursprünglich aus der Forstwirtschaft und bedeutet nichts anderes, als dass man nicht mehr erntet, als man pflanzt. Heute findet natürlich eine entsprechende Ausdehnung auf die unterschiedlichsten sozialen Bereiche statt. Mein Vater hat seinerzeit auch sehr viel darüber geredet und ich denke sehr viel über diese Fragen nach. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass der Begriff inzwischen so breitgetreten ist, dass ich ihn nicht so viel verwenden möchte. Aber der Gedanke dahinter ist in unserer DNA.

Ferdinand Fürst zu Castell-Castell (54) ist das Oberhaupt des fürstlichen Hauses Castell-Castell.

Interessant, dass sie von DNA sprechen, weil den Besitz gesund und ungetrennt in die nächste Generation weiterzugeben, ist ein nicht immer ganz leichtes Unterfangen. Man würde dieser Vorgehensweise fast etwas typisch aristokratisches unterstellen. Um mal konkret zu bleiben, wie macht das die Fürstlich Castell’sche Familie, der Teilung des Besitzes im Generationswechsel aus dem Weg zu gehen?

Das ist nur möglich, wir unterliegen ja seit 100 Jahren dem BGB, weil sich alle einig sind. Früher war das anders, da waren wir in Familien- und Rechtsfragen autonom. Das stand bis 1965 sogar im BGB als Kuriosität am Rande. Es wurde sogar noch bis in die 60er Jahre abgedruckt, mit dem Zusatz gegenstandslos. Seit hundert Jahren sind wir jeder anderen Familie gleichgestellt. In unserer Familie wurde die Primogenitur, damit das Prinzip wir vererben nur an einen pro Generationen, erst vor 200 Jahren eingeführt. Das ist heute rechtlich nicht mehr selbstverständlich, sondern wir haben genauso das Pflichtteilsrecht wie alle anderen auch. Und in den letzten drei Generationen nach dem Tod meines Urgroßvaters, nach dem Tod meines Großvaters und vor dem Tod meines Vaters ist es jeweils nur durch das Mitwirken aller Geschwister möglich gewesen, den Besitz immer in eine Hand weiterzugeben. Das war nur möglich über Pflichtteilsverzichte.

Wir haben momentan eine ganz große Renaissance des Themas Aristokratie innerhalb unserer Gesellschaft. Gleichzeitig wird an eine adelige Herkunft insbesondere an eine Familie mit langer, regionaler Tradition ein gewisses Bild geknüpft. Glauben Sie, dass Ihre historische Verbundenheit zur Region sie dazu bringt sich mehr gesellschaftlich zu engagieren.

Das können Sie mich prinzipiell fragen, aber da würde ich mich jetzt ungern selber bewerten. In Land- und Forstwirtschaft ist das eine verbreitete Grundhaltung sich um die Region zu kümmern und verantwortungsvoll und vorrausschauend zu wirtschaften. Ich denke auch nicht, dass das eine Eigenheit von Adeligen ist, sondern eher von Familienunternehmern. Wenn sie mich jedoch fragen wollen, was typisch adelig ist, auch in Bezug auf unsere Unternehmungen, würde ich sagen, das Prinzip des familienfremden Managements. Das finden sie in sehr vielen adeligen Familien, egal welcher Größe. Schon historisch wurden die entsprechenden Besitzungen nicht selbst verwaltet und haben damit schon Eigentum und Managementkompetenz voneinander getrennt. Das machen wir auch bis heute so. Ich bin weder Vorstand meiner Bank noch mein Forstleiter oder mein Weingutsleiter. Auf jeder dieser Positionen sitzt jemand, der das besser kann als ich. Damit holen wir uns gezielt zusätzliche Kompetenzen.

Schon historisch wurden die entsprechenden Besitzungen nicht selbst verwaltet und haben damit schon Eigentum und Managementkompetenz voneinander getrennt.

Ist das ein Hauptgrund für den jahrhundertelangen Erfolg ihrer Unternehmungen?

Ja, es gibt ja die bekannte Faustregel von den drei Generationen, nach denen alles weg ist. Da ist ein ganz wichtiger Punkt, familienfremdes Management. Dahinter steht, dass ich von meinem Nachfolger nicht erwarte, dass er der brillanteste Unternehmer ist. Denn Unternehmertum vererbt sich auch in adeligen Familien nicht zuverlässig in jeder Generation und trifft auch dann vor allem nicht immer den ältesten Sohn. Aber man kann deutlich leichter Menschen dazu erziehen, jemanden zu finden, der etwas besser kann. Für viele wachsende Familienunternehmen stellt allerdings genau dieser Gedanke eine große Hürde dar, irgendwann festzustellen, dass man jemand an der Unternehmensführung beteiligen muss, mit dem man nicht verwandt ist.

Gerade Unternehmertum ist dieser Tage wieder ein heiß diskutiertes Thema innerhalb unserer Gesellschaft. Wir haben in Deutschland oft die Mentalität, dass Unternehmer ihre Altersvorsorgen beziehungsweise ihre Vermögensanlage durch das Unternehmen abdecken möchten. Das bedeutet man legt nicht an, man grenzt nicht klar sein Privatvermögen ab, sondern reinvestiert in die eigene Unternehmung. Finden sie, dass es hier eines Umdenkens bedarf?

Ja, ich glaube, dass es ganz wichtig ist hierüber nachzudenken. Ein Unternehmer, der an seiner Firma stark beteiligt ist, ist etwas tolles und auch eine ganz große Stärke Deutschlands. Andererseits glaube ich, dass es wichtig ist Privatvermögen zu haben. Ich glaube, dass es nicht nur gut ist für die Familie, sondern auch sehr gut für das jeweilige Unternehmen. Dadurch wird der entsprechende Unternehmer auch freier in der Ergebnisteuerung. Ein Unternehmer, der auch in einer Krisenzeit des Unternehmens auf Erträge aus dem Unternehmen angewiesen ist, ist viel instabiler als jemand der sagen kann: Ich mache in diesem Jahr keine Ausschüttung an mich oder meine Familie und ich lebe in diesem schwierigen Jahr von meinem Privatvermögen. Daher glaube ich, es ist ein Gebot der Stabilität für einen Unternehmer Privatvermögen zu haben.

Es ist ein Gebot der Stabilität für einen Unternehmer Privatvermögen zu haben.

Ich würde so weit gehen zu sagen, dass vieles auch mit einem Bildungsdefizit in Deutschland zu tun hat. Wir lernen in unseren Schulen viel zu wenig über Finanzen, Vermögensbildung und anverwandte Themen. Glauben Sie auch, dass wir ein ganzes großes Defizit in diesem Bildungsbereich der kommenden Generationen haben?

Ich sehe das auch so, sage aber dann, das ist natürlich zuvorderst die Pflicht der Eltern, das ihren Kindern beizubringen. Aber da haben wir ein großes Defizit. Schon so einfache Dinge wie, nicht mehr auszugeben, als man einnimmt, sind wichtige Erziehungsinhalte. Insbesondere, dass man keine nicht notwendigen Dinge auf Kredit kauft oder andere Finanzierungsmodalitäten dafür nutzt. Man muss sich zuvorderst überlegen wie macht man das mit dem Geld, was man seinen Kindern gibt. Koppelt man das an Leistung oder nicht? Ich finde es muss beides geben. Man könnte zum Beispiel sagen, mäh den Rasen dann bekommst du Summe X. Ich finde aber auch, gerade bei meinen Kindern, es gibt auch Y mit dem sie machen können, was sie wollen. Sie sollen damit auch Fehler machen, das gehört dazu, um den verantwortlichen Umgang mit Geld zu erlernen. Es geht um das Befolgen einfacher Grundregeln: Gib nicht mehr aus, als du hast und mach keine Schulden für Konsum. Das führt nämlich automatisch zu Unfreiheit im Leben.

Schon so einfache Dinge wie, nicht mehr auszugeben, als man einnimmt, sind wichtige Erziehungsinhalte

Da lässt sich eine klare Kritik an unserer momentanen Situation erkennen. Es wird so viel Leasing betrieben, wie noch nie. Lange sind das schon nicht mehr schnelle Autos, sondern Fernsehgeräte oder teure Uhren. Auf der anderen Seite haben wir es hier mit einem Wirtschaftszweig zu tun, der viel Geld einnimmt. Wie sehen sie das?

Wir verdienen in Prinzip auch Geld damit. Aber wir machen zum Beispiel keine Konsumfinanzierung und das passt auch nicht zu uns, weil es ein Massengeschäft ist. Aber ich möchte das in erster Linie auch persönlich nicht machen. Ich mache gerne Geschäfte, die für beide Seiten gut sind und jemandem Geld zu leihen, um Konsum zu finanzieren, da hätte ich ein schlechtes Gewissen.

Wir haben jetzt viel über ihre Bank und Geld geredet, jetzt möchte ich noch zu einem genussvolleren Thema kommen, ihrem Weingut. Sofia Juliana Gräfin von Castell-Rüdenhausen hat das erste Mal in Castell die Silvaner-Traube angebaut, ihre Hauptrebsorte. Was sagen sie dazu, wenn öfter behauptet wird, es fehlt Silvaner an Jahrgangstiefe und Reifepotential?

Also, der Silvaner ist erstens unsere Hauptrebsorte und zweitens auch meine persönliche Lieblingsrebsorte. Gleichzeitig soll er auch die Rebsorte sein, mit der wir in die Zukunft gehen wollen, das heißt, er hat nicht nur eine lange Geschichte hier von 360 Jahren, sondern auch ein Profil, das mich sehr hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt. Das liegt daran, dass gute Weine immer balanciert sind, zwischen Süße und Säure. Das geht bei einem Riesling auf einem sehr hohen Niveau. Beim Silvaner hingegen auch auf einem niedrigeren Niveau. Natürlich spricht für den Silvaner auch, dass jeder gern ein zweites Glas nimmt, da man keine Angst haben muss säurebedingte Beschwerden in Kauf zu nehmen. Das freut mich natürlich, weil ich auf diese Art und Weise gute Wein verkaufen kann und die Leute auch gern noch eine zweite Flasche aufmachen.

Und was sagen Sie zum Reifepotenzial des Silvaners?

Was das Reifepotenzial angeht, erleben die Menschen hier immer wieder Überraschungen. Wir hatten vor ein paar Monaten hier am Tisch eine Verkostung mit Weinen, die wir teilweise im privaten Keller meines Vaters gefunden haben. Da war ein knochentrockener 1958er Silvaner dabei, null Gramm Restsüße und Alkohol neun oder zehn. Also die klassischen Haltbarmacher Zucker, Alkohol, Säure waren da alle nicht mehr drin. Das war ein ganz trockener, leichter und eleganter Wein und da haben wir erstmal alle großen Augen gemacht. Also auch beim Silvaner kommt die Langlebigkeit aus der Reife der Rebstöcke, der Reife der Trauben und aus der Sorgfalt im Keller. Sie müssen wissen, unsere Weine hier wachsen auf Keuperböden, wodurch sie einen ziemlich starken Kalzium-Gehalt auch im Wasser mitkriegen. Sie haben damit eine längere Pubertät als andere Weine und erreichen eine angenehme Reife später und können diese dadurch viel länger durchhalten. Also unsere Lagenweine verkaufen wir jetzt erst ab dem September nach der Ernte und unsere großen Gewächse erst ab dem zweiten September nach der Ernte. Wir bemerken auch, dass man sich die großen Gewächse noch 20 Jahre hinlegen kann und damit passieren dann viele erfreuliche und interessante Dinge.

Auch beim Silvaner kommt die Langlebigkeit aus der Reife der Rebstöcke, der Reife der Trauben und aus der Sorgfalt im Keller.

Wer seine Agrarerzeugnisse so liebt, hat bestimmt auch eine Meinung zur momentanen Agrarpolitik und der Trendwende hin zum biologischen Weinbau. Glauben sie, dass dieser Weg zukunftsfähig ist oder glauben sie, dass wir uns gerade auf europäischer Ebene verrennen?

Dazu gehen mir viele unterschiedliche Gedanken durch den Kopf, sie müssen wissen, ich war mal Deutschlands größter Bio-Winzer. Diese Art des Anbaus habe ich aufgegeben, da ich beschließen musste, dass das nur erlaubte Bekämpfen von Pilzerkrankungen an den Reben mit Kupfer, zu einer Degradierung des Bodens führen würde. Also die Zukunft des Betriebes klaren Unsicherheiten aussetzt. Zum einen ist es gut, dass viele Menschen nachdenken wie geht es mit unserem Klima weiter, was ist unsere Zukunft. Darüber freue ich mich und mir ist erstmal egal, aus welchem politischen Lager oder welcher Ideologie diese Trendwende kommt. Es ist natürlich auch die Ausprägung einer Wohlstandsgesellschaft, in der die meisten Leute nicht überlegen müssen wie sie satt werden, sondern wie sie vermeiden heute wieder zu viel zu essen. Was wichtig ist, ist das Vertrauen in die, die nah am Thema dran sind, die Winzer, die Landwirte oder allgemein die Erzeuger innerhalb der Agrarsparte. Man muss zunächst mal den Bewirtschaftern zutrauen, dass sie das richtig machen, weil sie nah dran sind, weil sie kompetent sind und weil sie die räumlichen Gegebenheiten kennen. Gleichzeitig sollte man ihnen  unterstellen, dass sie fachkundig und von guten Interessen geleitet sind sowie, dass man nicht versuchen sollte, von zu weit weg und zu global Dinge zu regeln. Weil, was richtig oder falsch ist, kann sich auch ändern. Wir bewirtschaften unsere Weinberge und unseren Wald seit Jahrhunderten und was da gut oder schlecht für die Zukunft ist, weiß ich noch nicht genau. Wir arbeiten mit Studien zum Thema Analogiegebiete, um herauszufinden, was es heute schon gibt und wie es bei uns in 150 Jahren aussehen könnte.
Dabei ist wichtig, dass wir uns einen Plan zurechtlegen, wie wir damit zurechtkommen, beziehungsweise, wie wir es verhindern können, dass es soweit kommt!

ZUR PERSON

Ferdinand Fürst zu Castell-Castell (54) ist Oberhaupt des fürstlichen Hauses Castell-Castell. Er führt zusammen mit Otto Fürst zu Castell-Rüdenhausen die fürstlich Castell’sche Privatbank, Forstverwaltung und Landwirtschaft. Die fürstlich Castell’sche Bank ist spezialisiert auf Kredit- sowie Anlagegeschäfte und vor allem in der Verwaltung von deutschen Mittelstandsvermögen und -Unternehmen tätig.  Er ist außerdem in 26. Generation Alleinbesitzer des Castell’schen Weinguts, welches als erstes in Deutschland die Silvaner-Rebe anbaute, die noch 360 Jahre nach der ersten Pflanzung die Hauptanbausorte des Castell’schen Betriebs darstellt. Fürst Ferdinand hat mit seiner Ehefrau Marie-Gabrielle insgesamt 5 Kinder. 2013 erhielt er die bayrische Staatsmedaille für Verdienste um die Umwelt.

]]>
2688