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Katechismus der Schrauber
By Editorial Department access_time 7 min read

Vier Räder bewegen den Körper, zwei Räder unsere Seele. Jemand, der das Motorradfahren wirklich ernst nimmt, will an solche Sätze glauben. Sie sind Leitmotive einer Szene, für die Fahren nicht Fortbewegung, sondern Lebenseinstellung ist. Wie langweilig, sich auf eine Maschine von der Stange zu schwingen, auf ein schnödes Massenprodukt, das zwar technisch einwandfrei funktioniert, doch am Ende ohne Seele ist. Wahre Enthusiasten wollen nie etwas anderes besitzen als eine ganz und gar nach eigenen Visionen und Träumen zusammengebaute Maschine. „Customizing“ heisst das in der Szene, und dabei kommen oft schier unglaublich schöne Einzelstücke heraus, die jedem die Schau stehlen.

Chupito / Foto Kristina Fender

Einen Blick hinter die Kulissen dieser eingeschworenen (Welt-) Gemeinschaft von Schraubern bietet der Bildband „The Ride – New Custom Motorcycles and Their Builders“ (Die Gestalten Verlag, Berlin), dem die Fotos für diesen Artikel entnommen sind. Co-Autor ist der Neuseeländer Chris Hunter, dessen Website www.bikeexif.com als weltweit beliebteste Schaufenster der Custom-Bike-Szene gilt. Präsentiert werden vor allem jene Motorrad-Künstler, die durch ihre Arbeit eine Symbiose schaffen zwischen visionärer Kühnheit, markanter Formgebung und kompromissloser handwerklicher Qualität. Manche Entwürfe haben eine regelrecht subversive Kraft und verzichten auf jeglichen technischen Schnickschnack, andere kombinieren den Retro-Look mit modernen Hochleistungs-Scheibenbremsen aus dem Rennsport, LED-Leuchten, Zahnriemen und High-Tech-Antriebskomponenten.

El Solitario / Foto Kristina Fender

In dem Buch zu sehen sind sehr unterschiedliche Visionen davon, was ein „perfektes“ Motorrad sein kann. Einige Bikes sind Einzelstücke, die in einem monatelangen, fast spirituellen Prozess entstanden sind, andere sind Auftragsarbeiten und wieder andere existieren sogar als begrenzte Serie.

Kurt Walter / Foto ICON Motorsports

„Im Prinzip geht es darum, das Bike nach allen Regeln der Kunst individuell zu verändern und umzubauen“, sagt Ivan Gabelini von Classic Cycles im Schweizerischen Ort Oberwil. Meist wird erst mal alles abschraubt, was nicht niet- und nagelfest ist, um dann beim Neuaufbau der Phantasie freien Lauf zu lassen: Reifen, Tank, Lenker, Sattel und vieles andere mehr wird mit Liebe zum Detail nach persönlichen Vorlieben kombiniert und zu einem Bike ganz eigener Prägung verbaut. Wenn man das nicht selber macht, sondern eine darauf spezialisierte Firma beauftragt, dann kann das schnell ins Geld gehen. Besondere Einzelstücke können da gerna auch mal hohe sechsstellige Beträge verschlingen.

Sordillo Salt Flat / Foto David Ferrua

Eine Massenbewegung ist das jedoch nicht: Nach Schätzungen von Experten sind nur rund 2-3 Prozent der zugelassenen Motorräder meldepflichtige Umbauten. Das nicht meldepflichtige sogenannte Soft-Customizing mit kleineren Änderungen wie etwa Lampen oder speziellen Lackierungen sind etwa bei 5-10 Prozent der zugelassenen Maschinen zu finden. Die strengen Bestimmungen der Strassenverkehrsämter sorgen dafür, dass die Phantasie nicht allzu wilde Blüten treibt.

Walt Siegl / Foto Walt Siegl

Die Wurzeln des Costumizing gehen zurück auf die Zeit Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre. Als Rohstoff konnte man damals sowohl in Amerika wie Europa preisgünstig alte Miltiärmaschinen erstehen, die den zweiten Weltkrieg überlebt hatten und überflüssig geworden waren. Einen Höhepunkt erlebte die junge Customizing-Szene in den 1960er und 1970er Jahren. Das umgebaute Serien-Motorrad war wichtigstes Szeneelement.

Roland Sands / Foto Joe Hitzelberger

Insbesondere die sogenannten englischen „Cafe Racer“ spielten eine stilbildende Rolle: tief geduckte Maschinen mit Stummellenkern und offenen Schalldämpfern, wurden bis zu Geschwindigkeiten von über 160 km/h „frisiert“ und in Straßenrennen untereinander gemessen. Namensgebend war das legendäre Ace Cafe in London. Von hier aus starteten die jungen Motorrad-Rebellen ein Rennen zum nächsten Kreisverkehr und wieder zurück. Diese Distanz war nach Möglichkeit zurückzulegen, ehe eine zuvor in der Jukebox angewählte Single zu Ende abgespielt war.

Musik, Mode, Botschaft, Attitüde – alles hängt irgendwie zusammen. Kein Wunder also, dass es Ex-Rennfahrer Roland Sands als besondere Herausforderung empfand, den Stil des DJ-Ausstatters Technics auf ein Bike zu übertragen. Dazu kombinierte der Kalifornier mattschwarzen Lack und silbrig schimmernde Zierelemente. Sobald sich die Räder drehen, bewegen sich die Zierlelemente auf der Felge in die entgegengesetzte Richtung und erinnern damit an den Drehteller der legendären Technics-Plattenspieler.

Roland Sands / Foto Joe Hitzelberger

Sands, bei dem schon das Hollywoodstars wie Brad Pitt oder Mickey Rourke Maschinen gekauft haben, greift bei seiner Arbeit zurück auf Serienmotorräder von Ducati, BMW oder Harley Davidson. „Viel Spass macht es mir, Stilelemente und Ideen miteinander zu kombinieren, die unter normalen Umständen nicht zueinander passen würden“, beschreibt Sands seine Philosophie.

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LowDownandShifty / Foto Mike Leven

Ähnlich bekannt in der Szene ist auch der ursprünglich aus Österreich stammende Walt Siegl. Er ist einer der wenigen Cosumizer, denen ein Portrait im amerikanischen Wall Steet Journal gewidmet wurde. Spross einer Künstlerfamilie, fuhr Siegl mit 18 sein erstes Motorrad-Rennen und schloss sich einem Straßenrennsport-Team an. Nach Stationen in Marseille als Rangierer und als Schweißer in Deutschland, Österreich und Italien, führte ihn ein Job nach Moskau, wo er in das österreichische Aussenministerium wechselte. 1985 wurde er nach New York versetzt, um sich dort für die Förderung zeitgenössischer österreichischer Kunst einzusetzen. Nebenbei widmete er sich dem Umbau von Motorrädern. Sieben Jahre später machte er das Hobby zum Beruf und bezog mit seiner Familie in Harrisville eine alte Stoff-Manufaktur. Eines Tages schneite Arthur Sordillo in seine Werkstatt, ein Pop-Art-Künstler aus Brooklyn. „Der Typ legte mir das Modell eines kantigen Tanks auf den Tisch und sagte, ich solle ihm dazu das passende Motorrad bauen“, erzählt Sands. Entstanden ist eine Harley-Davidson im hod-rod-Style.

Moon Rocket / Foto Mike Chase

Auch die „Moon Rocket“ des Kaliforniers Cole Foster zitiert die Hot-rod-Stilistik. Inspriationsquelle waren die Bikes amerikanischer drag-race-Helden wie Leo Payne und Boris Burry. Für diese Beschleunigungsrennen wurde alles abgebaut, was nicht unbedingt zum Fahren nötig war und eine Verkleidung sorgte für Windschlüpfigkeit.
Extreme Umbauten sind das Markenzeichen von Kurt Walter, Gründer und Designchef von „Icon“, einem Hersteller von Motorradbekleidung in Portland, Oregon. Manche seiner martialischen Bikes sehen aus wie aus einem Endzeit-Actionstreifen. Besonders schön ist der auf einer Yamaha X650 basierende Chopper namens „Low Down & Shifty“. Der lang gestreckte Rahmen, der für einen extremen Radstand sorgt, wurde komplett neu gefertigt. Auch der dazu passende flache Aluminium-Tank mit einer aufgemalten Christus-Figur ist reine Handarbeit.
Ausserhalb der USA, dem unangefochtenen Mekka der Costumizer, hat sich die spanische, von David Borras geführte Garage „El Solitario“ hervorgetan. Eines von Borras Paradestücken ist die mollig wirkende „Baula“. Das auf einer BMW R75/5 basierende Motorrad trägt den Namen einer prähistorisch aussehenden Schildkröte. Mit etwas Phantasie kann man in den Zylinderköpfen die Flossen des Meerestiers wiedererkennen.

Sordillo Salt Flat / Foto David Ferrua

Auf den Retro-Style setzt auch der australische Veredler „Deus Ex Machina“. Stellvertretend sei die knallrot lackierte „Moulin Rouge“ genannt, eine wunderschöne Kombination von Heritage und Neuzeit, West und Fernost. Der nostalgische Monosattel und der Tank einer frühen Triumph gehen eine kongeniale Verbindung ein mit dem Motor von Kawasaki und Yamaha-Doppelbremsen.